Therapiegespräche
im Wald

Die Medizinische Poliklinik des Universitätsklinikums in Jena, undatierte Aufnahme. Foto: FSU-Fotozentrum

Wie sahen psychiatrische Anstalten in der DDR aus, wie arbeiteten Psychologen im kleineren deutschen Staat, welche Themen besprachen Ratsuchende in der Psychotherapie des realexistierenden Sozialismus? Um diese Fragen geht es beim Projekt „Seelenarbeit im Sozialismus“, zu dem sich mehrere Universitäten im Osten und Westen Deutschlands zusammengefunden haben. 

„Es roch nach Hölle“, so erinnert sich eine frühere Patientin an ihren ersten Eindruck in einer psychiatrischen Anstalt in der DDR in den 1960er Jahren. „Knast, Gitter, Gespensterball, Endstation“ lauten weitere Stichworte von Zeitzeugen, die der Verein „Durchblick“ in Leipzig, eine Interessengemeinschaft von Psychiatrieerfahrenen, befragt hat. Bei einem Online-Symposium berichtete Thomas Müller, Leiter des Psychiatriemuseums des Vereins, von diesem Projekt, für das Psychiatrieerfahrene, Pflegekräfte und ärztliches Personal verschiedenen Alters und aus verschiedenen Regionen der ehemaligen DDR befragt wurden. „Die Interviewer hatten selbst  Psychiatrieerfahrung, das gab den Gesprächen eine spezielle Dynamik“, sagte Müller. Sein Fazit: Besonders in den 50er und 60er Jahren herrschten schwierige Verhältnisse, viele Gebäude waren in katastrophalem Zustand, es mangelte an Ausstattung. Das Personal war in den Augen der Kranken „befehlerisch“ und eher „Gefängniswärter im weißen Kittel“. Aber es gab auch andere, positivere Erfahrungen. 

„Das Elend war gesamtdeutsch”

Gab es also „die“ Psychiatrie der DDR, und sah sie grauer aus als in der alten BRD? Nein, sagte die Forscherin Maike Rotzoll: „Das Elend war gesamtdeutsch.“ In Ost wie West starteten Psychiatrie und Psychologie nach dem Krieg mit wenig Material und kaum Personal. Eine Aufarbeitung der Schuld während der NS-Jahre fand auf keiner Seite der Grenze statt. „Wir sind die Nachfolger derer, die ihre Patienten zur Sterilisation oder Tötung angemeldet haben“, sagte die Psychotherapeutin Annette Simon, die in den 70er Jahren studierte. „Aber es gab keinen Bezug, keinen Hinweis darauf.“ 

Wer wissenschaftlich tätig war oder veröffentlichte, war – ein ungeschriebenes Gesetz – verpflichtet, sowjetische Fachliteratur zu zitieren. Bis Anfang der 60er Jahre war die Verhaltenslehre nach Pawlow, der Pawlowismus, ideologisch gewollt, nachdem 1950 ein SED-Parteitag die „Schlaftherapie nach Pawlow“ als Ersatz für die Psychoanalyse eingeführt hatte. Dennoch: „Im Westen herrschte das Vorurteil, es gebe bei uns nur das, aber ich bin dem Pawlowismus nie begegnet“, sagte der Psychiater Michael Geyer, emeritierter Professor und ehemaliger Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Universität Leipzig. 

In einigen Anstalten Menschenrechtsverletzungen

Diese und weitere Widersprüche will der Forschungsverbund im Verlauf des Projekts, das vom Bundesbildungsministerium gefördert wird, näher ergründen. Der Zeitpunkt sei gut, so Professor Bernhard Strauß, Leiter des Instituts für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie der Uniklinik Jena: „30 Jahre nach dem Ende der DDR gibt es allmählich eine bessere Verfügbarkeit von Material, gleichzeitig sind noch Zeitzeugen da.“ Die These, der Staat missbrauchte die Psychiatrie in ihrer Gesamtheit zur Unterdrückung, sei in dieser Eindeutigkeit „widerlegt“, bilanzierte der Rostocker Professor Ekkehardt Kumbier. Dennoch gab es in einigen Anstalten Menschenrechtsverletzungen.

Der DDR wird oft das Etikett „Fürsorgediktatur“ angeklebt, vor allem in Bezug auf das Gesundheitssystem, auf das der sozialistische Staat stolz war. „Gleichzeitig betrachtete die DDR bestimmte Disziplinen aber auch argwöhnisch als Ort von kritischem Denken und möglichem Widerstand“, lautet eine der Ausgangsthesen des Forschungsprojekts. 

Solche „Inseln“ und „Nischen“ gab es einige in der DDR. 1963 entstanden die „Rodewischer Thesen“, die eine Öffnung der Anstalten zugunsten einer gemeindenahen Sozialpsychiatrie forderten. Doch die Reformbewegung scheiterte, ebenso wie ein zweiter Versuch mit den „Brandenburger Thesen“ von 1976, in denen mehr demokratische Mitbestimmung in den Einrichtungen gefordert wurde – ein Widerspruch zum engen Korsett der DDR-Doktrin. 

Unter Ärzten mehr inoffizielle Stasi-Mitarbeiter als In der Gesamtbevölkerung

Weitere Widersprüche bestimmten das Bild, das die Vorträge und Redebeiträge im Symposium zeichneten: Mit einigen Patienten ging Annette Simon im Wald spazieren, damit sie vor den Wanzen in der Klinik nicht zu schlecht über den Staat sprachen. Viele Hilfesuchende waren Lehrkräfte oder hatten in der Armee gedient: „Man hätte die Zustände benennen müssen, stattdessen haben wir versucht, den Einzelnen zu helfen.“

Das Misstrauen war berechtigt: Die Erforschung der Archive zeigte, dass unter dem ärztlichen Personal prozentual mehr inoffizielle Mitarbeiter der Stasi als in der Gesamtbevölkerung waren. Gleichzeitig galt die ärztliche Schweigepflicht als hohes Gut, berichtete Michael Geyer. Er kann die Doppelgesichtigkeit des Staates an seinem eigenen Lebensweg ablesen. Obwohl ein „Stasi-Grundrauschen“ seinen Weg begleitete, machte er Karriere und war berufspolitisch aktiv. Die „Kampffelder für kleine Freiheiten“ habe er sich immer erhalten, berichtete er – aber sich auch verstellen müssen, um seine Ziele zu verfolgen. „Trotz und Sarkasmus halfen, am Ende haben wir das System totgelacht.“  Esther Geißlinger (Aus: EPPENDORFER 4/21)