- In Berliner Gropius Bau wird heute die lang erwartete große Kusama-Retrospektive eröffnet – Zu sehen ist sie vorerst nur digital. Anbei ein Blick auf das von psychischer Beeinträchtigung geprägte Leben und Wirken der Künstlerin Yayoi Kusama.
In den Fünfzigern entflieht sie der Enge des konservativen Japans nach New York. Dort verwandelt Yayoi Kusama ihre psychischen Probleme in aufsehenerregende Kunst und setzt sich in der damaligen Avantgarde zwischen Größen wie Andy Warhol und Frank Stella durch. Sie bricht auf in ein von Grenzüberschreitung, Auflösung des Selbst und dem Aufgehen in der Unendlichkeit geprägtes Lebenswerk. Bis sie 1973 nach einer Zeit skandalträchtiger Polit-Aktionen an ihre eigenen Grenzen stößt und psychisch destabilisiert nach Japan zurückkehrt. Dort verfällt sie in schwere Depression, kann nicht mehr malen, braucht psychiatrische Hilfe. Und fasst schließlich den Entschluss, freiwillig ganz in der Klinik zu bleiben. Seit mehr als 40 Jahren lebt und arbeitet sie nun in einer Nervenheilanstalt in Tokio.
Mit 91 Jahren gehört Kusama dabei zu den erfolgreichsten – und umsatzstärksten – lebenden Künstlern. Eine atemberaubende Biographie, gespeist aus einer unwirklich kraftvollen Berufung, „Kunst zu schaffen, um meine Seele zu beruhigen“, so die Frau, der 2021 erstmals in Deutschland eine große Retrospektive gewidmet werden soll.
Schwieriges Verhältnis zur Sexualität
Yayoi Kusama wird 1929 als jüngstes von vier Kindern in Matsumoto, etwa 200 Kilometer von Tokio entfernt, geboren. Ihre Familie ist wohlhabend und besitzt eine Saatgutfirma. Die Ehe der Eltern ist unglücklich. Der Vater pflegt viele Affären, die Mutter schickt ihm Yayoi hinterher, um zu spionieren. Dabei habe sie den Vater in kompromittierenden Situationen erlebt, heißt es, was als ein Hintergrund ihres schwierigen Verhältnisses zur Sexualität gedeutet wurde.
Kusama fängt mit zehn Jahren an zu malen und lehnt zum Ärger ihrer Mutter viele Heiratsanträge ab, will sie doch nur eins: malen. Unterstützung sucht und findet sie bei der amerikanischen Malerin Georgia O’Keeffe, der sie schreibt – und die ihr antwortet und rät, in die USA zu kommen. 1957, mit 28, lassen ihre Eltern sie endlich in die neue Welt ziehen, etliche Kimonos im Gepäck.
In New York arbeitet sie hart. Ihr Markenzeichen werden die „Polka Dots“, Punktemuster, sowie die Netzmalereien, genannt infinity nets, mit denen sie manisch Objekte und ganze Räume überzieht.
Halluzinationen und Ängste
Die Anhäufung von Motiven ist das Ergebnis ihrer Obsession. Immer wieder ist von einer obsessiven Zwangsstörung die Rede, aber auch von Halluzinationen und Ängsten, unter denen sie gelitten haben soll. Später produziert sie auch weiche Stoffskulpturen, erregt Aufsehen – und weiß, wie sie Aufsehen erregt – indem sie beispielsweise eine Sitz-Installation mit bananenartigen Stoff-Ausstülpungen „Penisstühle“ betitelt. Sie bewältigt ihre Ängste, indem sie das, was ihr Angst macht, in Kunst verwandelt. Sexualität machte ihr Angst. Die einzige Beziehung, die bekannt ist, führt sie mit dem nicht minder exzentrischen Künstler Joseph Cornell, und die Beziehung funktioniert nur, weil sich beide auf eine Liebe ohne Sexualität festlegen.
Ihre Kunst wird immer aktionistischer und spektakulärer. 1966 fährt sie zur Biennale nach Venedig und nimmt inoffiziell teil: Sie stellt, ohne Erlaubnis, 15.000 Spiegelkugeln auf und stellt ein Schild daneben: „Kaufen Sie ihren Narzissmus für zwei Dollar.“ Die Installation wird verboten. Da legt sie sich im knallroten Overall zwischen die Kugeln, der PR-Effekt ist enorm.
Massenhochzeit und Nacktperformances
Ab 1967 wird Yayoi Kusama zur Skandalkünstlerin, veranstaltet aufsehenerregende Happenings und Performances mit politischem Impetus: gegen den Vietnam-Krieg, für Hippiekultur und Schwulenrechte. Sie organisiert eine Massenhochzeit von Homosexuellen und Nacktperformances, bei denen sie Tänzerinnen und Tänzer mit ihren „polka dots“ bemalt.
1972 stirbt Cornell, 1973 kehrt sie psychisch in schlechtem Zustand nach Japan zurück. Nach Krisen und Klinikaufenthalten schlägt sie ein neues Kapitel auf. Sie zieht in die schützende, vertraute Psychiatrie in Tokio, kommt offenbar zur Ruhe, findet Muße, um Geschichten und Gedichte zu schreiben. Schließlich wird sie endlich auch in Japan wahrgenommen. 1993 schickt ihr Heimatland sie als offizielle Repräsentantin Japans zur Biennale. Bei Reisen lässt sie sich stets von einem Psychiater begleiten. Weltweite Ausstellungen und Auszeichnungen folgen. 2017 kann sie in Tokio ein eigenes Museum eröffnen.
Produktiv ohne Kunstwelt
Heute plant sie die Zeit nach ihrem Tod, gestaltet ihren „Landeanflug“, wie sie 2018 in ihrer Autobiographie schreibt. Auf Bildern sieht man sie weiter stilecht mit knallorangenen Haaren und gepunkteter Kleidung. Sie ist weiter produktiv, aber mit der Kunstwelt habe sie nichts mehr zu tun. Sie konzentriere sich immer intensiver auf sich selbst.
Ich kann wohl sagen, dass dies die schönste Zeit meines Lebens ist.
Yayoi Kusama
Trotz Erschöpfung und Schmerzen, die sie mit Akupunktur und Moxa-Therapie bekämpfe und die sie nicht abhalten, 10.000 Schritte am Tag zu gehen, wie sie sagt. „Die Revolution meines Selbst, für die ich bisher gelebt habe, führte also zur Entdeckung des Todes.“ Vor dem habe sie früher schreckliche Angst gehabt. Die scheint sich gelegt zu haben: „Ich werde ins Nebenzimmer gehen. Leben und Tod sind eins.“
Anke Hinrichs
Bis 1. August 2021 widmet der Berliner Gropius Bau Kusama eine umfassende Retrospektive auf das Schaffen der letzten siebzig Jahre. Die Ausstellung soll anschließend nach Köln und dann nach Basel weiterwandern.
(Quellen: Yayoi Kusama: „Infinity net – Meine Autobiographie“, Piet Meyer Verlag, 28,40 Euro; Heather Lenz: Kusama – Infinity, Dokumentarfilm, DVD, Zweitausendeins Edition 2018, 15,99 Euro).