Pionierinnnen der Sozialpolitik

Die weiblichen Abgeordneten der MSPD * in der Weimarer Nationalversammlung am 1. Juni 1919. Vordere Reihe von links: Antonie Pfülf, Unbekannte, Minna Martha Schilling, Elfriede Ryneck, Wilhelmine Kähler, Marie Juchacz, Johanna Tesch, Frieda Lührs. Foto: Bestand des Historischen Museums Frankfurt. *Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSPD), auch Mehrheits-SPD oder Mehrheitssozialisten, war eine Bezeichnung für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) zwischen Mitte 1917 und 1922. Der veränderte Name wurde benutzt, um die Abgrenzung von der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) zu betonen, die sich 2017 als Kriegsgegner abgespalten hatte.

Sie machte als eine der ersten Frauen in Deutschland in der Politik Karriere: die Parlamentsabgeordnete und Sozialpolitikerin Marie Juchacz. Die von ihr gegründete Arbeiterwohlfahrt besteht noch heute. Noch bis 12. Mai  zeigt die AWO in ihren Hamburger Einrichtungen und bundesweit, wie vielfältig die Organisation Menschen seit ihrer Gründung im Jahr 1919 hilft.

Jahrzehntelang hatten Frauen für das Wahlrecht kämpfen müssen, bis 41 weibliche Abgeordnete im Februar 1919 in die Nationalversammlung einzogen. Marie Juchacz hielt als erste Frau eine Rede vor einem deutschen Parlament. Im Weimarer Nationaltheater betrat die Sozialdemokratin am 19. Februar 1919 die Rednertribüne. Mit den Worten „Meine Herren und Damen” wandte sie sich an die überwiegend männlichen Abgeordneten der erst einen Monat zuvor gewählten Verfassunggebenden Nationalversammlung. Das sorgte für Heiterkeit, wie im Protokoll der Sitzung vermerkt ist. 

Für Marie Juchacz war der Aufstieg in der Politik in keiner Weise vorgezeichnet. Die Tochter eines Handwerksmeisters wurde am 15. März 1879 in Landsberg an der Warthe geboren, dem heutigen polnischen Gorzów Wielkopolski. Die Schulzeit war für sie nach acht Jahren beendet. Ihr älterer Bruder Otto brachte ihre Perspektiven einmal so auf den Punkt: „Haushalt und Fabrik und dann Versorgung durch Heirat, das ist dein Lebensweg.” Doch Maries Leben sollte anders verlaufen. 

Die junge Frau verlässt 1906 ihre Heimatstadt, um nach Berlin zu ziehen. Hinter ihr liegt eine kurze, gescheiterte Ehe mit dem Schneidermeister Bernhard Juchacz, mit dem sie zwei Kinder hat. Tatsächlich hatte sie nach der Volksschule zunächst als Dienstmädchen gearbeitet, dann kurz in einer Fabrik und schließlich als Wärterin in einer Nervenheilanstalt. 

Als sie genügend Geld gespart hat, macht sie eine Ausbildung zur Schneiderin. Ihre beiden kleinen Kinder Lotte und Paul nimmt sie nach der Trennung von ihrem Mann mit nach Berlin. Ihre jüngere Schwester Elisabeth kommt mit – auch sie wird 1919 als SPD-Abgeordnete in die Nationalversammlung einziehen. Gemeinsam erziehen die beiden Frauen die Kinder. Den Lebensunterhalt verdienen sie in Heimarbeit mit Nähen. 

In der Reichshauptstadt engagieren die Schwestern sich zunächst in einem Frauenbildungsverein, der Leseabende organisiert. Sie lernen, Versammlungen zu leiten und Reden zu halten. Als 1908 in Preußen das Verbot der politischen Betätigung für Frauen fällt, tritt Marie Juchacz in die SPD ein.  Obwohl sie sich nie in den Vordergrund drängt, wird sie bald zu einer gefragten Rednerin. 1913 geht sie hauptberuflich in die Politik und übernimmt die Stelle einer SPD-Frauensekretärin für die Obere Rheinprovinz in Köln. Das Nähen kann sie nun endlich aufgeben. 1917 wird Juchacz Frauensekretärin im SPD-Parteivorstand in Berlin. 

Als Juchacz mit knapp 40 Jahren in die Nationalversammlung einzieht, kennt sie die sozialen Probleme ihrer Zeit aus eigener Erfahrung. Sie hat Erfahrungen in der Armenpflege und ist dem Elend der Kriegswitwen und Waisenkinder, der Arbeitslosen und Invaliden begegnet. Und sie ist entschlossen, auch als Abgeordnete zur Linderung der sozialen Not beizutragen.

Schon in ihrer ersten Parlamentsrede definierte Marie Juchacz die Sozialpolitik als große Aufgabe der Frauen in der Politik. Im Dezember 1919 rief sie darum den Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der SPD ins Leben. Im Vordergrund stand die Idee der Selbsthilfe innerhalb der Arbeiterschaft. die sich mithilfe der AWO eigenverantwortlich organisierte – und nicht mehr auf Almosen angewiesen sein wollte. Aber auch um die Verteilung der Hilfsgüter nach dem Ersten Weltkrieg – damit auch die Arbeiterschaft und nicht nur die bürgerlich geprägten Wohlfahrtsvereine bedacht wurden. Die Organisation, die sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auflöste, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründet und existiert bis heute.

Bis 1933 war Marie Juchacz Reichstagsabgeordnete, Mitglied des SPD-Parteivorstandes und Vorsitzende der AWO. Nach der Machtübernahme Hitlers ging sie ins Exil. 1949 kehrte sie aus den USA nach Deutschland zurück und begleitete als Ehrenvorsitzende den Wiederaufbau der AWO. Sie starb am 28. Januar 1956 im Alter von 76 Jahren in Düsseldorf.  Jürgen Prause (epd) / rd

Ortsgruppe Hamburg

Die Idee, solidarisch füreinander einzustehen und Hilfsbedürftige zu stärken, setzte sich auch andernorts durch. So gründete sich am 23. Februar 1920  der „Hamburger Ausschuss für soziale Fürsorge e.V., Ortsgruppe des Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt in Berlin“.Heute zählt die AWO Hamburg mit etwa 3000 Mitgliedern und rund 1.500 hauptamtlichen Mitarbeitenden zu den sechs Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege. Im Jubiläumsjahr informiert die AWO Hamburg auf der Internetseite www.awo-hamburg.de/jubilaeum  über ihre Geschichte und die über 60 Events, die AWO-Mitglieder anlässlich des Jubiläums auf die Beine gestellt haben.