An keinem anderen Ort lässt es sich leichter morden als in einem Krankenhaus oder Heim. Täterinnen und Täter müssen kaum mit einer Entdeckung an einem Ort rechnen, wo das Sterben alltäglich ist. Prof. Dr. Karl H. Beine, ehemaliger Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am St. Marien-Hospital in Hamm, ging im Rahmen der Veranstaltung „Erinnern für die Zukunft“ in der Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll der Frage nach, wie und warum aus Helfern Täter werden.
Zwölf Tötungsserien untersuchte Prof. Beine im deutschen Sprachraum (9 in Deutschland, 2 in Österreich, einen in der Schweiz). 17 TäterInnen wurden 205 Tötungen nachgewiesen, angeklagt waren 264. Jeder Fall, so Beine, habe seine Charakteristika, etwa eine verrohte Sprache, Nähe zu Chefärzten, Überforderung. So wie bei Krankenschwester Michaela Roeder, die auf einer Wuppertaler Intensivstation nachweislich neun PatientInnen totspritzte. Der Tatzeitraum erstreckte sich über fünf Monate, ihr verdächtiges Verhalten wurde auch von Pflegern gemeldet –mit dem Ergebnis, dass ihnen üble Motive unterstellt wurden und sie daraufhin ihren Job verloren. Angemahnt wurde „strengstes Stillschweigen“. Michaela Roeder wurde u.a. wegen Totschlags in fünf Fällen zu 11 Jahren Haft verurteilt, später vorzeitig entlassen.
Überdosis von Insulin bzw. Rohypnol
Im Wiener Krankenhaus Lainz mordeten zwischen 1982 und 1988 vier Hilfsschwestern, durch eine Überdosis von Insulin bzw. Rohypnol oder durch „Mundpflege“, wie es die Frauen zynisch nannten. Dabei wurde den PatientInnen brutal Wasser eingeflößt, bis sie erstickt waren – Wasser in der Lunge kommt bei geschwächten Personen häufiger vor, deutet nicht explizit auf eine Tötung hin. Treibende Kraft war Waltraud Wagner, das Gericht hielt bei ihr 32 Morde für erwiesen und verurteilte sie zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Frauen konnten ohne Kontrolle frei schalten und walten, weder der erhöhte Medikamentenverbrauch noch die hohe Todesrate während deren Dienstzeit fielen ins Gewicht. Auch das Sprüche kursierten wie „der stirbt bei der Waltraud“, „die Waltraud wirds schon richten“ machte keinen der Ärzte stutzig. Wagner selbst machte nur „Sterbehilfe“ geltend.
„Mitwirkende eines göttlichen Willens”
Karl H. Beine schilderte weitere Mordserien, von Irene Becker, die sich als „mitwirkende eines göttlichen Willens“ verstand, bis hin zu der von Niels Högel, dem vielleicht schlimmsten Serienmörder der bundesdeutschen Kriminalgeschichte. Verurteilt wurde er für 87 Morde an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst, sein Motiv war nicht Überforderung oder Mitleid, wie in den anderen Fällen, sondern Selbstüberhöhung und Geltungssucht – er provozierte lebensgefährliche Notfälle, um nach einer erfolgreichen Reanimation als Held dazustehen. Auch bei ihm lag der Verdacht vor, dass er Patienten schädigt, die Oldenburger Klinik drängte ihn schließlich zur Kündigung – stellte aber dennoch ein hervorragendes Arbeitszeugnis aus. Er wechselte nach Delmenhorst und mordete dort weiter.
Spitznamen wie „Sensenvogel” oder „Vollstrecker”
Gemeinsamkeiten hatten alle Fälle. Es gab unzureichende Medikamentenkontrollen – es wurde nicht qualitativ geprüft, warum der Verbrauch anstieg. Die Arbeitsatmosphäre war permissiv, also nachgiebig, wenig kontrollierend, Beschwerden wurden nicht bearbeitet. Die Zahl der unerwarteten Sterbefälle stieg an, begleitet von der überzufällig häufigen Anwesenheit eines Kollegen, aber auch der Abwehrhaltung gegenüber Verdächtigungen. Im Scherz wurden den Tätern schon vor ihrer Entdeckung Spitznamen wie „Sensenvogel“ oder „Vollstrecker“ gegeben, dies könnte bereits ein wichtiger Hinweis sein, so Beine, der auch defizitäre Leichenschauen bei den fast immer hochbetagten und multimorbiden Opfern beklagte, die vor ihrer Ermordung aber nie unmittelbar sterbend waren. „Der Todeszeitpunkt war fast immer überraschend.“ Zahlreiche Morde hätten noch verhindert werden können, wenn beim ersten internen Verdacht sofort gehandelt worden wäre.
Verschlossene, primär selbstunsichere Menschen mit einer rohen, brutalen Sprache
Und die Täter? Prof. Beine beschrieb sie als verschlossene, primär selbstunsichere Menschen mit einer rohen, brutalen Sprache, deren Hemmschwelle nach der Ersttat absank. „Niemand war schuldunfähig, alle konnten sich steuern.“ Den Helferberuf hatten sie ergriffen, um sich besser zu fühlen, hofften auf eine Selbstwertstabilisierung. Die Arbeitsbedingungen führten dann zu Enttäuschung und Verbitterung. Halte der Frust auf Dauer an, könne es zu einer Vermischung von eigenem und fremdem Elend, zu einer „projektiven Identifikation“ kommen, so Beine. „Die Ohnmacht wird für sie unerträglich und auf die Patienten projiziert. Durch die Tötung wird die eigene Ohnmacht bekämpft.“ Der Tötungsakt sei also die aggressive Abwehr der eigenen Unfähigkeit.
Das Dunkelfeld ist hoch – auf ein aufgeklärtes Tötungsdelikt kämen zwei bis drei unaufgeklärte, so Beine, 50 Prozent der Todesfälle würden nicht mal angezeigt. Keine guten Aussichten für arg- und hilflose alte Menschen in Kliniken und Heimen vor dem Hintergrund von Fachkräftemangel und Sterbehilfediskussion. Michael Freitag (Originalveröffentlichung EPPENDORFER 4/23)