„Die” DDR-Psychiatrie
gab es nicht

Blick in ein Patientenzimmer der Klinik für Psychiatrie und Neurologie Jena im Jahr 1958. Foto: Uniklinik Jena

Wie ging es psychisch Kranken in der „Fürsorgediktatur“ der DDR, wie sah eine Therapie aus, wenn politische Themen nicht besprochen werden konnten, welche Nischen schufen sich Lehrende und Forschende? Um diese und weitere Fragen ging es im Projekt „Seelenarbeit im Sozialismus“, das Forschungsverbünde aus ost- und westdeutschen Universitäten gemeinsam bearbeiteten. Dafür wurden, gefördert durch Mittel des Bundesforschungsministeriums, seit 2019 Zeitzeugen befragt und Archive ausgewertet. Bei einem – online übertragenen – Abschlusstreffen in Weimar zeichneten die Teilnehmenden ein differenziertes Bild: „Die“ Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie der DDR habe es nie gegeben.


„Asoziales Verhalten“ lautete die Anklage gegen Frau L.. Die 30-Jährige hatte Lebensmittel gestohlen. Ebenfalls als „asozial“ war ein 17-Jähriger angeklagt, der in den Westen fliehen und da „als Gammler leben“ wollte, wie er aussagte. In beiden Fällen trat der Psychiater Hans Szewczyk als Gutachter auf und stellte sich vor die Angeklagten: Frau L. sei als Kind Missbrauchsopfer gewesen, ihr halbes Leben habe sie in psychiatrischen Einrichtungen unter furchtbaren Umständen gelebt. Und der junge Mann habe eigentlich Offizier der Deutschen Volksarmee werden wollen, sei aber durch den Wehrdienst in eine psychische Ausnahmelage geraten. Diese zwei Fälle, von denen die Berliner Wissenschaftlerin Alexandra Geisthövel berichtete, zeigten die Arbeit der Gerichtspsychiatrie in der DDR. Von 1961 bis 1985 leitete Hans Szewczyk die Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Charité-Nervenklinik. Eine Tätigkeit, die stark unter dem Druck der Politik stand – und in der der Psychiater dennoch für die Angeklagten eintrat und Kritik an Psychiatrie oder Armee übte. Dennoch erhielt Szewczyk einen Orden der Stasi – wofür genau, ist unbekannt.

IM nutzte Stasikontakte, um sich über Zustände zu beschweren

Ähnlich schillernd ist die Karriere von Hans Eichhorn, den Kathleen Haack aus Rostock vorstellte: Bereits im Studium war der Psychiater freiwillig IM der Stasi geworden. Als er 1981 die Leitung des psychiatrischen Bezirkskrankenhauses Ueckermünde übernahm, nutzte er seine Kontakte zu den „Diensten“, um sich über die Zustände zu beschweren. Er fotografierte die Zimmer mit den bröckelnden Wänden und die Netze, mit denen Menschen an die Betten gefesselt waren. Er beklagte die „mittelalterlichen Zustände“, die Lieblosigkeit und Unfähigkeit von Pflegepersonal und Ärzteschaft, die die psychisch Kranken nur verwahrten. Und er machte die Kritik auch öffentlich. 1986 entließ die Stasi ihn als Unruhestifter.

Wer Eingaben schrieb, konnte Glück haben

Ein gemischtes Bild ergaben auch Untersuchungen der „Eingaben“, ein in der DDR oft angewandtes Mittel, um in Mangellagen persönliche Hilfen zu erreichen. „Eigentlich ein feudales Instrument“, sagte Florian Bruns aus Dresden, der sich mit „Kranksein im Sozialismus“ befasst hatte und dazu hunderte schriftliche Eingaben untersucht hatte. Mal bat ein „alter Genosse“ um einen Platz im Altenheim, mal eine Frau um Medikamente für ihren Mann, teils bei unteren Behörden, teils sogar beim Gesundheitsminister persönlich. In vielen Fällen erhielten die Bittsteller das Gewünschte, aber – darauf wies eine Zuhörerin hin – das Problem löste sich dadurch nicht. „Es gab keine Selbsthilfegruppen. Wer schrieb, konnte Glück haben, aber der ebenso kranke Nachbar erhielt das Medikament nicht.“

Von der ambivalenten Rolle der Psychotherapie


Von einer ambivalenten Rolle der Psychotherapie sprach Bernhard Strauß, Professor an der Universitätsklinik Jena. Bedauerlich sei, dass die Fachleute in der DDR sehr stark auf den Westen geschaut hätten, während wissenschaftliche und fachliche Debatten der DDR kaum im Nachbarland angekommen seien. Staat und Politik hätten immer wieder versucht, die Psychotherapie zu vereinnahmen, doch diese Versuche seien zurück-
gewiesen worden.


Dass es wichtig sei, die Forschungen fortzusetzen, betonten Ekkehardt Kumbier, Professor für die Geschichte der Medizin an der Universität Rostock, und Susanne Guski-Leinwand, Professorin im Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund. „Aktuell ist es gerade der richtige Zeitpunkt für Quellenforschung“, sagte Kumbier, der sich mit „Psychiatrie in der DDR zwischen Hilfe, Verwahrung und Missbrauch“ befasst hatte. Er warnte davor, dass Wissen und Material verschwinden könnten, würde es nicht gesammelt.

„Es ist wichtig für eine Fach, seine Geschichte zu kennen”


Susanne Guski-Leinwand, die zu „Psychologie unter politischem Diktat und Justiz“ geforscht hatte, wies auf die Bedeutung der Studien hin: „Im Studium der Psychologie ist es nicht vorgesehen, über die Historie zu reden, aber es ist wichtig für ein Fach, seine Geschichte zu kennen.“ Bereits jetzt sind aus dem Forschungsverbund mehrere Doktor- oder Bachelorarbeiten entstanden: „Die Studierenden sind sehr interessiert“, sagte Guski-Leinwand.
Irene Misselwitz aus Jena, die selbst als Ärztin und Therapeutin in der DDR gearbeitet hatte, fasste die Erfahrungen ihrer eigenen Biografie zusammen: Trotz des politischen Drucks und der Angst vor Bespitzelung sei die Arbeit sinnvoll und wichtig gewesen: „Ich denke, dass wir auch damals den Patienten helfen konnten. Das Ziel war, dass sie in der Gesellschaft gesund leben.“ Esther Geißlinger (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 4/23)