Kinder und Jugendliche als Versuchsmaterial: Systematisch fanden in Heimen, psychiatrischen Kliniken und Einrichtungen der Behindertenhilfe Tests für Medikamente statt. Die Vorfälle, die bis weit in die 1970er Jahre auch in Schleswig-Holstein ereigneten, werden aktuell wissenschaftlich aufgearbeitet. Ein erster Zwischenbericht liegt nun vor.
Geheim gehalten hat es niemand: Ärzte, die im Auftrag der Pharmaindustrie neue Präparate an Kindern und Jugendlichen sowie psychisch kranken Erwachsenen testeten, schrieben ihre Erfahrungen auf. In Zeitschriften wie dem „Ärzteblatt“, aber auch in den Archiven der Kliniken und der pharmazeutischen Firmen finden sich Aufzeichnungen, welche Tests an wie vielen Personen stattfanden. „Das war ein gängiges Verfahren, keine versteckte oder verheimlichte Praxis“, sagte Christof Beyer vom Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck. Er gehört dem Team an, das im Auftrag des Landtags die Vorfälle erforscht und nun vor dem Sozialausschuss des Parlaments einen ersten Bericht abgab.
Die Tests waren nach damaligen Gesetzen nicht verboten. Ärzte waren auch nicht verpflichtet, Patienten oder deren Vormünder um eine Einwilligung zu bitten. Diese Gesetze entstanden erst in den 1970er Jahren, unter anderem in Folge des Skandals um das Mittel Contergan, das Babys im Mutterleib geschädigt hatte.
Dennoch fanden es die Mitglieder des Sozialausschusses erschreckend, dass so kurz nach dem Ende des „Dritten Reichs“ mit der massenhaften Ermordung psychisch Kranker und Menschen mit Behinderungen erneut oder immer noch so ein Umgang möglich war. „Der braune Saft war immer noch da“, sagte die SSW-Abgeordnete Jette Waldinger-Thiering, und Dennys Bornhöft (FDP) sagte: „Man würde gern die damals Beteiligten fragen, was sie sich dabei nur gedacht haben.“
Große Begeisterung über neuartige Psychopharmaka
Bis zu einem gewissen Grad lässt sich diese Frage aus den Akten herauslesen, berichtete Beyer. So herrschte eine große Begeisterung über die neuartigen Psychopharmaka. „Es gab vorher nichts, das gewirkt hätte. Daher neigten die Ärzte aus dem Willen, therapeutisch tätig zu werden, zu einem freigiebigen Einsatz dieser Mittel“, sagte der Wissenschaftler. So wurden auch Proben und Muster, die Pharmavertreter in die Kliniken brachten, gern verteilt und als „Teilhabe an Fortschritt gesehen“.
Gleichzeitig bleiben die psychiatrischen Kliniken und Einrichtungen die Stiefkinder des Medizinbetriebs: Die finanzielle Ausstattung war vergleichsweise schlecht, Wünsche von Ärzten und Klinikleitungen und der Ruf nach dem Ausbau ambulanter Hilfen verhallten. Die Medikamententests oder kostenlosen Proben waren auch daher wichtig, weil sie die engen Budgets nicht belasteten.
„Ich bin dem Parlament dankbar, dass wir das Thema hier besprechen“, sagte Sozial- und Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP). „Wir stehen zur Verantwortung für diese Dinge, und wir wollen eine Brücke schlagen zur Gegenwart und zur Zukunft: So etwas darf ein für alle mal nicht mehr vorkommen.“
Scharfe Kritik an der Pharmaindustrie
Scharf kritisierten er und die Grünen-Abgeordnete Maret Bohn die Pharma-Industrie. Die damals beteiligten Firmen, die finanziell am stärksten von den Tests profitierten, beteiligen sich heute am wenigsten an der Aufarbeitung. So nimmt keine der Firmen an den Gesprächsrunden teil, zu denen das Ministerium regelmäßig einlädt. Auch an der Stiftung „Anerkennung und Verantwortung“ sind zwar der Bund, die Länder und die Kirchen als Betreiber von Einrichtungen beteiligt, nicht aber die Firmen. Betroffene können noch bis Ende 2020 Geld von der Stiftung beantragen. Allerdings wird die Stiftung wird von einigen Betroffenen kritisch gesehen, unter anderem, weil die Hilfen nicht an alle Opfer vergeben werden und weil die Antragsverfahren als zu bürokratisch angesehen werden.
Mit dem Zwischenbericht zeigten sich die Vertreter der Betroffenen, die im Sozialausschuss dabei waren, durchaus zufrieden: „Man hat immer gesagt, ich sei ein Spinner, wenn ich davon berichtet habe“, sagte das ehemalige Heimkind Günther Wulf. Dennoch wollen er und die anderen Sprecher Eckhard Kowalke und Franz Wagle vor allem schnelle und konkrete Hilfen für die Betroffenen. „Und da ist bisher noch nichts besser geworden“, sagte Wagle dem EPPENDORFER. Esther Geißlinger