Wo sich Holocaust und
Euthanasie überkreuzten

Sozialsenatorin Melanie Leonhard, Dr. Michael Wunder und Philipp Stricharz von der Jüdischen Gemeinde legten Steine zum Gedenken ab. Foto: Obermaier/Asklepios
Am 23. September 1940 wurden 136 jüdische Patientinnen und Patienten aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn, der heutigen Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll, in den Tod deportiert. Dies war der erste Abtransport aus Hamburg im Rahmen der NS-Euthanasie und die erste Deportation jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Hamburg. Die Betroffenen wurden noch am selben Tag in der Gaskammer der zur Euthanasieanstalt umgebauten Haftanstalt in Brandenburg ermordet. An sie wurde jetzt im Rahmen einer Gedenkveranstaltung in Ochsenzoll erinnert.

­„Inklusion ist heute ein Menschenrecht. Das ist eine große zivilisatorische und demokratische Errungenschaft. Dass die Menschen nicht gleich, aber gleich viel wert sind, diese Erkenntnis hat sich allerdings erst allmählich durchgesetzt“, sagte Sozial— und Gesundheitssenatorin Dr. Melanie Leonhard. „Heute wie damals geht den Taten ein bestimmtes Denken voraus, dem wir nicht gleichgültig gegenüber sein dürfen. Der Wert eines Menschen ist nicht messbar und nicht verhandelbar. Er richtet sich nicht nach seinen Fähigkeiten oder Eigenschaften. Das muss nicht nur in den Gesetzen, sondern auch in allen Köpfen ankommen.“

Schätzungen gehen davon aus, dass insgesamt mindestens 5.000 bis 6.000 Menschen aller Glaubensrichtungen in Hamburg wegen einer Behinderung oder einer von NS-Ärzten diagnostizierten „geistigen Erkrankung“ getötet worden sind.  Eigentlich sollten Juden von der „Wohltat des Gnadentodes“, so der unmenschliche Sprech der Nationalsozialisten, ausgeschlossen bleiben, heißt es in einer Pressemitteilung der Veranstalter . Durch einen Erlass des Reichsinnenministers vom 30. August 1940 seien im Sinne der Nürnberger Gesetze als Juden geltende Psychiatriepatienten und Heimbewohner  jedoch in wenigen Sammelanstalten zusammengezogen worden. Für den norddeutschen Raum wurde Langenhorn als Sammelstelle vorgesehen.

Dr. Michael Wunder von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf machte in seiner Rede deutlich: „dass der Massenmord an den psychisch Kranken und Menschen mit Behinderung die erste große Massenmordaktion der Nationalsozialisten war und dass das in den Gaskammern der Euthanasie gesammelte Wissen die technische Grundlage für den späteren Massenmord an den europäischen Juden war. Euthanasie und Holocaust hängen nicht nur auf Grund der zu Grunde liegenden mörderischen Ideologie, sondern auch auf diese ganz pragmatische organisatorische und technische Weise eng zusammen.“

Die große Geschichte – über 300.000 Opfer der Euthanasie und über 6 Millionen Opfer der Shoa – spiegele sich in der kleinen Geschichte dieses Transports wieder. „Es war ein Transport in dem sich Euthanasie und Holocaust überlagerten”, so Wunder. „Die Betroffenen hatten das Doppelmerkmal psychisch krank oder behindert und J für Jude. Deshalb waren sie die ersten, an denen der industrielle Massenmord erprobt wurde. Und die Täter, die den Gashahn in den Euthanasieanstalten aufdrehten, wurde später mit ihrem Spezialwissen beim Massenmord an den Europäischen Juden eingesetzt. Der Tötungsarzt von Brandenburg wurde 1942 Lagerkommandant von Treblinka.”  

Mit Auschwitz und auch mit Brandenburg sei etwas in die Welt gekommen, was immer präsent ist – nicht nur als historische Realität, sondern auch als permanente Möglichkeit. „Wenn wir ein bewegendes Gedenken aufrechterhalten wollen, dann müssen wir uns immer wieder aufs Neue an diesem Ort des Geschehens zusammenfinden und immer wieder aufs Neue von den grausamen Geschehnissen hören“, sagte Prof. Dr. Claas-Hinrich Lammers, Ärztlicher Direktor der Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll. „Gerade die Zeit des Nationalsozialismus ist auch eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Psychiatrie. “

Philipp Stricharz von der Jüdischen Gemeinde Hamburg erklärte abschließend: .„Die Menschen, die von hier aus in die Ermordung geschickt wurden, haben keine Gräber. Deshalb legen wir einen Stein an der Erinnerungstafel hier an der Gedenkstätte der Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll ab und zeigen so, dass wir heute hier waren, um ihrer zu gedenken, und jeden Einzelnen von ihnen nicht vergessen haben.“ (rd)

Initiiert wurde die Gedenkveranstaltung von der Senatskanzlei der Freien und Hansestadt Hamburg, der Jüdischen Gemeinde Hamburg, der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und  der Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll. 

Die Videoaufzeichnung der Gedenkveranstaltung ist ab Freitag, den 25.9.2020 online auf dem Youtube-Kanal der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zu finden: www.youtube.com/alsterdorf