NS-Zeit im Kreis Steinburg – Zwangssterilisation und vergessene Mordopfer: Das nationalsozialistische Mordprogramm an Psychiatriepatienten begann bereits früh mit Zwangssterilisationen. Der Historiker Björn Marnau beschreibt es am Beispiel des Kreises Steinburg.
Von den meisten immer noch verdrängt: Mindestens 100 Menschen aus dem Kreis Steinburg sind im Rahmen des Euthanasie-Programms der Nationalsozialisten ermordet worden. „Für einige von ihnen begann die Ausgrenzung bereits in den 1930er-Jahren mit der Zwangssterilisation“, schreibt der Journalist und Historiker Björn Marnau in seiner Untersuchung „Die Steinburger ,Euthanasie‘-Toten: vergessene Mordopfer“. Den ursprünglich 1995 erschienenen Aufsatz hat er für das Buch des Kieler Journalisten Michael Legband „Das Mahnmal – 75 Jahre gegen das Vergessen. Vom Umgang mit dem Nationalsozialismus in Itzehoe“ (Ludwig Verlag, Kiel 2022, 34,90 Euro) aktualisiert und überarbeitet.
Unrühmliche Rolle kam dem Schloss Heiligenstedten zu
Ein unrühmliche Rolle kam in diesem Zusammenhang dem Schloss Heiligenstedten zu, dessen Geschichte bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Hier wurden Behinderte untergebracht, was bis heute kaum zur Kenntnis genommen wird. Die 1995 erschienene 616-seitigen Ortschronik beschränkt sich bei diesem Aspekt der Schlosshistorie auf den einzigen Satz: „1936 bis 1939 belegte man das Schloss mit harmlosen Schwachsinnigen, die bei Kriegsausbruch nach Schleswig verlegt wurden.“ (S. 289) Das Landesheim Heiligenstedten spielte, so Marnau, auch eine Rolle bei der nationalsozialistischen Propagierung der „Rassenhygiene“. Ende Januar 1939 hielt der leitende Arzt Dr. Anton Abraham einen Vortrag über „die reichlich 200, größtenteils schwachsinnigen Kinder und Jugendlichen“. Die Nazis hatten bereits 1934 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, das die Zwangssterilisation von Menschen mit verschiedenen „Erbkrankheiten“ vorsah. Von 1935 bis 1939 habe Heimleiter Abraham, so Marnau, 165 Heiminsassen zur Sterilisation angezeigt. Von diesen sind 85 nachweislich sterilisiert worden – die meisten von ihnen im Itzehoer Krankenhaus Julienstift unter Verantwortung von Prof. Dr. Heinrich Zoeppritz. Durchschnittalter: knapp 18 Jahre. „Die Anzeigediagnose lautete in 95 Prozent der Fälle auf ,angeborenen Schwachsinn‘, in fünf Fällen sollten wegen Epilepsie sterilisiert werden“.
1939 wurden die Bewohner nach Schleswig oder Rickling verlegt
Dass nicht alle angezeigten Jugendlichen hier unfruchtbar gemacht wurden, sei auf die Auflösung des Heims 1939 zurückzuführen. Die Bewohner wurden nach Schleswig oder Rickling verlegt. Die Kinder und Jugendlichen des Landesheims Heiligenstedten kamen in die Kinderpsychiatrie Schleswig-Hesterberg, die Erwachsenen in die Landesheil- und Pflegeanstalt auf dem Schleswiger Stadtfeld. Als die Hesterberg-Insasssen 1942 nach Stadtfeld verlegt wurden, waren einige der Heiligenstedtener bereits tot.
Nach der Zwangssterilisierung folgte oft die Ermordung: bis 1941 wurden rund 400 Schleswiger Patientinnen und Patienten über die „Beobachtungsanstalt“ Königslutter in die Tötungsanstalt Bernburg (Sachsen-Anhalt} oder in die Anstalt Uchtspringe transportiert. Da die Listen, so Marnau weder den jeweiligen Geburts- noch letzten Wohnort verzeichnen, können nur jene Steinburger Patienten namentlich identifiziert werden, die zuvor zwangsweise sterilisiert worden waren. „Demnach stammten mindestens 27 Menschen aus dem Kreis Steinburg, die Dunkelziffer dürfte jedoch höher liegen.“.Im hessischen Hadamar wurden von 1941 bis Kriegsende rund 14.500 Menschen getötet. Am 14. September 1944 fand der letzte Transport aus Schleswig mit 700 Kranken statt. Ziel war die Pommersche Anstalt Meseritz-Obrawalde. Mindestens 52 von ihnen stammten aus dem Kreis Steinburg, darunter sieben Menschen, „die schon in den 30er-Jahren als Landesheim-Insassen beim Itzehoer Gesundheitsamt zur Sterilisation angezeigt worden waren“, so Marnau.
* Auf 416 Seiten untersucht der Kieler Journalist Michael Legband den Umgang seiner Heimatstadt Itzehoe mit dem Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt steht die wechselvolle Geschichte des ersten Mahnmals für die Opfer des Nationalsozialismus in Nordeuropa. Das Itzehoer Mahnmal entstand auf Initiative des Film- und Fernsehproduzenten Gyula Trebitsch, entworfen von dem berühmten Architekten Fritz Höger – von ihm stammt beispielsweise das Hamburger Chilehaus – , der seinerseits wiederum in den Nationalsozialismus verstrickt war. Michael Legband beleuchtet in seinem streckenweise sehr persönlich gehaltenen Buch die Zeit vor und nach 1945 rund um das – von der Stadt viele Jahre quasi versteckte – Mahnmal.
Am 1. September wird Legband ab 19 Uhr einen Vortrag zum „Mahnmal“-Buch Itzehoer Kreismuseum Prinzeßhof, Kirchenstraße 19, im Rahmen der Sonderausstellung zur Geschichte des Nationalsozialismus halten.