Die Zahl der Corona-Infizierten steigt wieder stark an, die Stimmung in der Gesellschaft ist angespannter. Menschen mit psychischer Erkrankung haben ein höheres Risiko, dass sich ihr Zustand verschlechtert – das sind die Lehren aus den ersten Corona-Wellen. Viele suchen erst sehr spät Hilfe, beobachtet Prof. Dr. Sönke Arlt, Chefarzt des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapie am Ev. Krankenhaus Alsterdorf. Er ruft daher aktuell dazu auf, in psychischen Krisen rechtzeitig professionelle Hilfe zu suchen und nicht aus Angst vor Infektionen zu lange mit dem Beginn einer Behandlung zu warten. Die psychiatrischen und psychotherapeutischen Anbieter würden seiner Ansicht nach für eine größtmögliche Sicherheit ihrer Patient*innen sorgen. Ein besonderer Schutzfaktor sei natürlich auch die eigene Impfung, hier sollte man auf keinen Fall zögern, so Arlt im Gespräch mit Marion Förster, Leiterin der Unternehmenskommunikation der Medizinischen Gesellschaften der Evangelischen Stiftung Alsterdorf.
Was sind Anzeichen für eine behandlungsbedürftige psychische Krise?
Prof. Arlt: Wenn Menschen so belastet sind, dass sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen können, ist das ein Alarmzeichen. Wir sehen Patientinnen und Patienten, die vor Angst wie gelähmt sind, sich nicht mehr raustrauen. Die Zwangshandlungen entwickeln, in Antriebslosigkeit versinken oder in Süchte flüchten. Oder wenn eine Verschlechterung einer bekannten psychischen Erkrankung deutlich wird, sei es ein Alkoholrückfall, die Zunahme von Ängsten oder einer Depression. Dabei sind die Übergänge von einer psychischen Belastung zu einer behandlungsbedürftigen Erkrankung fließend – und es hängt auch immer davon ab, wie viele persönliche Ressourcen ein Mensch hat, damit umzugehen. Fachleute sprechen von Resilienz. Spätestens wenn der Akku leer ist, braucht es Hilfe von außen. Aber so weit sollte man es möglichst nicht kommen lassen, sondern die Hilfsangebote wahrnehmen.
Wie wirkt sich die Pandemie auf Menschen mit psychischen Erkrankungen aus?
Prof. Arlt: Wir wissen inzwischen, dass in den ersten Corona-Infektionswellen insbesondere Menschen mit psychischen Erkrankungen stärker belastet waren, sich ihr Zustand verschlechtert hat und sie gleichzeitig oft keine angemessene professionelle Hilfe hatten. Damals wurden psychosoziale Angebote aus Infektionsschutzgründen zurückgefahren, Tageskliniken geschlossen und z.T. auch stationäre Angebote. Dazu kommt die Angst vor der Betroffenen selbst, sich in der Klinik oder Praxis mit Corona zu infizieren. Eine Studie der Deutschen Depressionhilfe hat ergeben, dass es 44% der Patient*innen mit einer Depression in der Pandemie schlechter ging und es z.T. zu akuten Krankheitsphasen kam. Dem gegenüber steht ein Rückgang der Behandlungszahlen um ca. ein Viertel im stationären Bereich und die Hälfte in Tageskliniken im Jahr 2020, was einerseits an zurückgefahrenen Angeboten, andererseits an Vorbehalten vor einer stationären Behandlung lag. Dabei ist oft wertvolle Zeit verloren gegangen – denn je früher eine Behandlung beginnt, desto besser wirkt sie häufig bei den meisten Betroffenen.
Wie sieht die aktuelle Versorgungssituation aus?
Prof. Arlt: Inzwischen werden glücklicherweise die meisten psychiatrischen und psychotherapeutischen Angebote wieder vollständig oder nahezu vollständig vorgehalten. Es gibt – neben dem Schutz durch Impfungen – eine Vielzahl von Sicherheitsmaßnahmen, wie PCR-Tests vor Aufnahme, regelmäßige Schnelltests währende des Aufenthaltes, das Tragen von medizinischen Masken, Abstandsregelungen und damit einhergehend Therapien in kleineren Gruppen. Es besteht insgesamt eine große Achtsamkeit für Infektionssymptome und es wird alles getan um eine größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten. Das spüren auch die Patient*innen und fühlen sich entsprechend sicherer. Insofern ist ein stationärer Aufenthalt deutlich sicherer als der Besuch von Veranstaltungen oder das Bahnfahren.
Was kann ich selbst tun, um psychischen Krisen vorzubeugen?
Prof. Arlt: Tatsächlich kann man seinen „Akku wieder aufladen“ und trotz der aktuellen Coronawelle und den wahrscheinlich erneut auf uns zukommenden Einschränkungen etwas tun, um nicht in eine schwere Krise zu geraten: Persönliche Begegnungen in kleinerem Rahmen, die infektionssicher sind, für eine regelmäßige Tagesstruktur sorgen, auch im Homeoffice die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit bewusst einhalten, genug Sport und Bewegung, am besten draußen, für gesunde Ernährung sorgen, sich bewusst etwas Gutes tun und genießen!
(rd/PM Stiftung Alsterdorf)