Allein – Sein

„Dem Selbstgenügsamen gehört das Glück.“ Symbolfoto: pixabay

An einem kalten Tag entwickelt eine Gruppe Stachelschweine ein allen gemeines Wärmebedürfnis. Um es zu befriedigen, suchen sie die gegenseitige Nähe. Doch je näher sie aneinander rücken, desto stärker schmerzen die Stacheln der Nachbarn. Da aber das Auseinanderrücken wieder mit Frieren verbunden ist, verändern sie ihren Abstand, bis sie die erträglichste Entfernung gefunden haben.

Diese kleine Parabel – 1851 von dem Philosophen Arthur Schopenhauer verfasst – beschreibt auf ebenso schlichte wie deutliche Weise die Grundproblematik unseres In-der-Welt-Seins. Dort, wo wir uns wirklich verbinden, sind wir abhängig. Und dort, wo wir uns entfernen, wo wir uns abgrenzen, erleben wir die Freiheit der Autonomie – um den Preis des Alleinseins. Das früheste Bild der Verbundenheit: unser Leben im Uterus der Mutter. Wir werden mit allem versorgt, was wir brauchen. Doch unser Leben hängt an ihrem Leben. Das früheste Bild der Unverbundenheit: unsere Geburt, die uns mit dem Schnitt durch die Nabelschnur von der Mutter trennt. Endlich in Freiheit. Doch gleichzeitig verloren. Und nun beginnt der Kampf. Das Ringen um ein für uns jeweils gutes Maß an Autonomie und Abhängigkeit.

„Die Erfahrung, allein zu sein, während jemand anders anwesend ist”

Wie erfolgreich oder erfolglos dieser Kampf verläuft, entscheidet sich – so sagt es die Bindungsforschung – in unseren ersten Lebensjahren. Wachsen wir auf dem guten Boden einer sicheren Bindung zu unseren frühen Bezugspersonen (meist natürlich den Eltern) auf, haben wir gute Chancen, in unserem erwachsenen Leben die Quadratur des Kreises, diese Gratwanderung zwischen dem „mit sich sein“ und dem „mit (dem) andern sein“ zu meistern. Voraussetzung für die Fähigkeit, allein zu sein, ist jedoch – so formuliert es Winnicott – ein Paradoxon: es ist die „Erfahrung, allein zu sein, während jemand anders anwesend ist“. Um in einem guten Sinne allein sein zu können, braucht es die Erfahrung „ausreichend guter Bemutterung“, es braucht das gute innere Objekt, das das Vertrauen gibt, dass die Welt uns beschützt und uns wohlgesonnen ist.

Plötzlich sollen und müssen wir uns schützen vor dem bedrohlichen Außen

Doch seit Beginn der Pandemie ist es nun schwer geworden, an den Schutz und die Wohlgesonnenheit der Welt zu glauben. Da mögen die „inneren Objekte“ noch so gut und sicher in uns verankert sein. Plötzlich sollen und müssen wir uns schützen vor dem bedrohlichen Außen, d.h., um die Infektionsketten zu unterbrechen, sollen wir uns in die Isolation zurückziehen, um in dieser und durch diese die Bedrohung der Pandemie abzuwenden und zu besiegen. Mit dem Beginn des ersten Lockdowns gab es viele Menschen, die das verordnete Alleinsein, die plötzliche Stille in den Straßen, die Ruhe am Himmel, die klare Luft, die geschlossenen Sportund Freizeitstätten und Restaurants genossen. Das gewohnte Leben stand plötzlich still, und viele nahmen die neue Situation als eine Erfahrung, die ihnen ihr bis dahin gewohnter Alltag nicht gewährt hatte. Und sie glaubten daran, dass dies alles bald wieder vorbei sein und das Leben wieder seinen normalen und (scheinbar) sicheren Gang nehmen würde. Diese Hoffnung hat sich nicht bestätigt.

Die Welt im Außen bleibt unsicher und bedrohlich


Das Gebot der Stunde heißt weiterhin: Bleib zu Hause! Bleib mit dir! Bleib allein! Denn jeder zwischenmenschliche Kontakt birgt die Gefahr einer Infektion. Was also tun? Die Welt im Außen bleibt unsicher und bedrohlich. Und durch die Pandemie hat sie uns gezeigt, dass sie uns keinerlei Sicherheiten oder Gewissheiten – nicht einmal mehr scheinbar – zu bieten hat. Wir haben gar keine andere Chance als den Blick nach innen zu richten. Und was finden wir dort – in unserem Innern? Das gute, innere Objekt, das wir vielleicht in uns tragen, wird uns nicht retten, denn das Vertrauen in das Gute zerschellt an der harten Grenze der äußeren Bedrohung. Es geht um Leben und Tod und – wenn wir die Bedrohung durch die äußere Welt zu uns nehmen – letztendlich um die Frage, wie wir der Angst vor unserer Endlichkeit begegnen.

Stephen Batchelor, ein britischer Buddhist und Autor, formuliert es so: „Wir müssen der beunruhigenden Tatsache ins Gesicht sehen, dass unser Versinken im Bereich der Dinge eine sinn- und hoffnungslose Flucht vor etwas ist, dem wir nie entkommen können. Aber wovor flüchten wir im Falle der existentiellen Angst? Wir fliehen vor der Unermesslichkeit unserer Existenz, die unkontrollierbar auf den Tod zueilt.“ Wir haben gar keine andere Chance als den Blick nach innen zu richten.

„Eigentlich könnten wir der Pandemie dankbar sein”

Eigentlich könnten wir der Pandemie dankbar sein, denn sie wirft uns in einem bisher nicht gekannten Maße zurück in unsere eigene Existenz, in unser Sein. Die Welt der Dinge, Batchelor nennt sie die „Welt des Seienden“, hat ausgedient, sie hat uns im Sinne unserer existentiellen Sicherung nichts mehr zu bieten. Es geht also darum, dass wir uns des Todes – als einer ständig unser Leben begleitenden Möglichkeit – gewahr werden. Und selbst dies wird nicht ausreichen. Einen Frieden in uns selbst werden wir nur finden, wenn wir der Dualität zwischen Leben und Tod, zwischen Sein und Nicht-Sein, entkommen bzw. diese in unserem Denken und Fühlen auflösen. Und dies bedeutet, unsere Ohnmacht dem Leben gegenüber anzuerkennen und durch sie hindurchzugehen, wissend, dass das Leben stärker ist als wir und dass es eben nicht kontrollierbar ist.

Es gibt nur eine Sicherheit: die Gewissheit des Todes

Unsere Existenz hält nur eine Sicherheit für uns bereit: die Gewissheit des Todes. Wenn wir uns diese zum Freund machen, wird das Leben leichter – und eben auch sicherer, weil wir uns weniger ängstigen müssen.

Martina de Ridder (Erstveröffentlichung im EPPENDORFER 1/21)