24 Stunden-Betreuung
statt Heim

Das Landessozialgericht ordnete die teure Finanzierung einer 1:1-Betreuung an. Foto: Michael Grabscheit / pixelio.de

Wieder einmal entschieden Richter über einen psychiatrischen Knackpunkt: Wenn für einen Psychiatrie-Patienten mit intensivem Betreuungsbedarf im Anschluss an eine Klinik-Behandlung kein Heimplatz gefunden wird, muss die Stadt Hamburg vorübergehend die Kosten für eine ambulante 24-stündige 1:1-Intensivbehandlung bezahlen. Das entschied das Landessozialgericht*. Es dürfte sich um einen vermutlich bundesweiten Präzedenzfall handeln, dessen weitere Auswirkungen noch nicht absehbar sind.

Der Mangel an Heimplätzen ist ein Hamburger Dauerbrenner, der sich offenbar weiter zuspitzt. Als Folge droht monate- oder gar jahrelange „Verwahrung“ auf geschlossenen Akutstationen. Doch ein Gerichtsbeschluss schafft jetzt eine Alternative und setzt Politik und Verwaltung unter Druck: Weil Hamburg damit seinem Sicherstellungsauftrag nicht nachkomme, hat das Sozialgericht die Hansestadt zweimal per einstweiliger Anordnung verpflichtet, alternativ eine 24-stündige 1:1-Betreuung zu bezahlen. Vorübergehend – unter der Maßgabe, weiter nach einer „besonderen Wohnform“, sprich einem Heim, zu suchen. Dabei dürfte auch der Preis Druckmittel sein: Die Kosten einer ambulanten Intensivbetreuung (mit umgerechnet ca. 6 Vollzeitkräften) schätzt der Barmbeker Richter Dr. Olav Stumpf auf 27.000 Euro monatlich.

„Heime nehmen nicht mehr jeden, und die Herausforderndsten bleiben übrig”


Zwar hat sich das Angebot inzwischen etwas verbessert – statt 32 Plätzen stehen in Hamburg inzwischen 50 „hochstrukturierte“ bzw. geschlossene Plätze zur Verfügung, weitere sind in Planung. Doch hat sich inzwischen auch die Situation im bundesweiten „Heimmarkt“ weiterentwickelt, und zwar nicht zum besten: „Heime nehmen nicht mehr jeden, und die Herausfordernsten bleiben übrig“, so Stumpf. Folge: Circa 30, so seine Schätzung, warten als Langzeitpatienten in den ohnehin überfüllten Akutpsychiatrien. So wie ein weiterer Aspirant für eine evt. Klage: ein Mann, der seit 1,5 Jahren geschlossen in Ochsenzoll untergebracht sei, weil keine Anschlussbetreuung gefunden wird.
Dass das Thema nicht nur Hamburg betrifft, zeige im übrigen ein Fall aus Niedersachsen, woher ein 21-jähriger Mann stammt, der, seit er 18 ist, in der geschlossenen Psychiatrie in Harburg lebt und wegen Angriffen aufs Personal immer wieder fixiert wird.

„Bundesweiter Präzedenzfall”

Es handele sich wohl um einen bundesweiten Präzedenzfall, so der Amtsrichter, der von einem Erfolg und von einem „richtungsweisenden, wichtigen Impuls“ an die Behörde, einem „Leuchtturm“, spricht. Denn die Situation habe sich immer weiter zugespitzt. Seit vielen Jahren beklagen insbesondere Angehörige die auswärtige Unterbringung. Mehrere Hundert leben mal näher, mal weiter entfernt von der Hansestadt und ihren Familien. Pro Jahr kommen circa 50 psychiatrische und
50 alterserkrankte KlientInnen dazu, die auswärts leben oder leben müssen, weil es in der Stadt an geschlossener beziehungsweise hochstrukturierter Weiterversorgung fehlt.

Der aktuelle Fall, für den Berufsbetreuer Dr. Florian C. Selle gerichtlich die Finanzierung der 1:1-Betreuung durchsetzte, lebt inzwischen in einer Zweier-WG. Der Mann mit forensischer Vorgeschichte habe „keine Krankheitseinsicht“, sei aber „gut führbar“, so Betreuungsrichter Stumpf, „wenn er seine Medikamente nimmt“, dafür sorge die 1:1-Betreuung. Mehrere Träger winkten ab, als sich Selle auf die Suche nach einer Intensivbetreuung machte. Umgesetzt wurde sie schließlich von der GPD Nordost gGmbh.

„Eine große Chance für den betroffenen Menschen”

„Die GPD beschäftigt sich intern schon längere Zeit mit den irritierenden regionalen Entwicklungen im Bezug auf Menschen mit ihren komplexen Assistenzbedarfen. Hierzu gehören auch die Menschen mit Unterbringungsbeschlüssen und die Erkenntnis, dass die umfangreichen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in entsprechenden Einrichtungen nicht immer die richtige bzw. einzige Antwort auf ihren besonderen Hilfebedarf sein kann“, so schriftlich Geschäftsführer Thomas Krug auf EPPENDORFER-Anfrage. Man habe „die Ressourcen der sozialen Einbindung in die Familie unterstützen“ können. „Wir fingen sukzessive an, den betreffenden Nutzer kennenzulernen bis hin ihn tageweise zu betreuen.“ Man sei bereit, die „Unterstützung für den betroffenen Menschen langfristig fortzusetzen“, so Krug weiter. Die Perspektive für eine „umfassende Reintegration in ein weitestgehend normales Leben“ sei „eine große Chance für den betroffenen Menschen wie auch für den Leistungsträger, da wir hier in einem Zeitraum von ca. zwei Jahren die notwendigen Leistungen schrittweise reduzieren könnten.“

Pflichtversorgung, mehr aufsuchende Hilfen und geschlossene Einrichtungen gefordert

Die Betreuung laufe „sehr gut“ und der Betreute sei so stabil, dass es bald die Chance gebe, die Nachtbetreuung wegzulassen, so Richter Stumpf. Er sowie Betreuer Selle und Prof. Dr. Matthias Nagel, Chefarzt der Asklepios Klinik Nord – Psychiatrie in Wandsbek, haben das Ganze aus ihren jeweiligen Blickwinkeln für einen Fachzeitschriftenbeitrag beleuchtet**. Dabei kommt die Hamburger Psychiatriepolitik der letzten Jahre nicht gut weg. Zur Versorgungsverbesserung fordern sie die verpflichtende Versorgung über Gesamtplankonferenzen sowie den Ausbau ambulanter aufsuchender Angebote und zudem eine ausreichende Zahl geschlossener Einrichtungen in der jeweiligen Region.

„Schwer Kranke werden systematisch vernachlässigt”

„Schwer Kranke würden im Gesundheitssystem systematisch vernachlässigt und erhielten nach Entlassung fast nie Psychotherapie, umständliche Regelungen der Eingliederungshilfe würden eine direkte Anschlussversorgung nach der Klinik praktisch ausschließen, kritisiert in dem Beitrag Matthias Nagel. Einige Wohneinrichtungen und Pflegeheime würden schwierige Klienten in Kliniken einweisen und dann den Heim-oder Wohnplatz kündigen. Von Seiten der Stadt werde verwaltet, aber nicht gesteuert, kritisiert er auf EPPENDORFER-Anfrage. Besondere Kritik übt Nagel an der Ambulanten Sozialpsychiatrie (ASP). Das System müsse reformiert werden mit dem Ziel einer Konzentration auf schwerer Erkrankte. „Einzelne Anbieter vermeiden schwer Kranke und konzentrieren sich auf leichter Erkrankte. Einige machen gar keine aufsuchende Arbeit mehr. Das ist traurig. Die ASP muss auf neue Füße gestellt werden“, fordert Matthias Nagel.


ASP-Kritik übten in einem gemeinsamen Schreiben auch die Hamburger Chefärzte: die außerklinische sozialpsychiatrische Versorgung schwer kranker Menschen mit Schizophrenien, Substanzabhängigkeiten und weiterer Diagnosen finde in Hamburg „leider nur zum Teil statt“. (Die GPD wird hier explizit als gutes Beispiel herausgestellt, die „umfassende und intensive Angebote für z. T. sehr schwer beeinträchtigte Menschen zur Verfügung“ stelle). In dem Brief wird auch eine aufsuchende außerklinische sozialpsychiatrische Behandlung mit unterschiedlichen Intensitätsgraden gefordert. Die Abschaffung der PPM sei „keine gute Idee gewesen“. PPM steht für Personenzentrierte Hilfen für psychisch kranke Menschen – das System wurde 2014 durch ASP ersetzt. Begleitet von warnenden Stimmen, die schon damals eine Schlechterversorgung schwer Kranker prophezeiten.

„Eine traurige, unbegreifliche Vernachlässigung”


Was Hamburg an psychiatrischer Versorgung biete sei „großartig für die bürgerliche Mitte, aber schwer Kranke fallen raus“, so Nagel, der früher in Lübeck arbeitete. Die Versorgung in Schleswig-Holstein sei viel besser, meint er. In Hamburg würden viele vereinsamen und ihre Wohnung verlieren, die Gruppe der Obdachlosen, von denen geschätzt 80 Prozent psychisch krank seien, sei eine Riesen-Versorgungslücke. Nagels Fazit klingt verheerend: Aus seiner Sicht habe sich die Situation der Psychiatrie in Hamburg in den letzten Jahren „deutlich verschlechtert“: „Es ist eine traurige, unbegreifliche Vernachlässigung!“


Bis sich das ändert, gibt es nun für die PatientInnen, die am Ende der mangelhaften Versorgungskette ohne zielgerechte Versorgung übrig bleiben, eine Alternative. Die Autoren des BtPrax-Beitrags fordern explizit dazu auf: „Die 24-stündige häusliche 1:1-Betreuung kann eine sachgerechte und hilfreiche alternative Versorgungsform sein, wenn es nicht gelingt, für Betroffene einen geeigneten Therapieplatz zu finden. Betreuer und Sozialdienst sind aufgefordert, in jedem Einzelfall, in dem es nicht gelingt, in angemessener Zeit die erforderliche Anschlussversorgung zu organisieren, zu prüfen, ob die 24-stündige häusliche 1:1-Betreuung im konkreten Einzelfall umsetzbar ist.“ Anke Hinrichs (Aus der EPPENDORFER-Printausgabe 4/23)

  • *4.10.2022 (Az. S 28 SO412/22 EH D), 30.1.2023 (S, 52 SO 582/22 ER D), 22.3.2023 (L 4 SO 13/23 B ER D)
  • **„Die tägliche 24-stündige 1:1-Betreuung als alternative Versorgungsform bei fehlenden Einrichtungen zur geschlossenen Langzeitunterbringung“ in der Fachzeitschrift „Betreuungsrechtliche Praxis“ BtPrax 1/2023