Hinter deutschen
Gefängnis-Gittern

Blackbox Gefängnis: Wie es hinter Gittern um Gefangene mit psychischen Erkrankungen steht, liegt bislang vielfach im Dunklen. Eine „Task-Force“ der DGPPN soll jetzt für Aufklärung sorgen. Symbolfoto: pixabay

Mangelnde Behandlung, isolierte Unterbringung, menschenunwürdige Suizidprävention: Die Situation von psychisch kranken Straftätern, die in Gefängnissen einsitzen, ist vielerorts erbärmlich und erinnert an schlimmste Verwahrpsychiatrie, wenn Patienten fast den ganzen Tag eingeschlossen werden und sich psychiatrische Behandlung im Wesentlichen auf Medikamentenvergabe beschränkt. Viele Gründe für die Bildung einer Task-Force, wie sie die DGPPN* im Vorjahr angeschoben hat. Auch der jüngste DGPPN-Kongress diskutierte über „Psychiatrische Versorgung von Haftanstalten“.


Der vorher unauffällige Ingenieur und Familienvater war alkoholabhängig geworden, entgiftete, lebte abstinent, entwickelte aber zunehmend Ängste, auch von Bilderscheinungen ist die Rede, und von Problemen in der Partnerschaft. Irgendwann bringt er seine Ehefrau um, zwei Monde hätten ihm dies befohlen, erklärte er laut Gregor Groß. Der Psychiater der JVA Straubing hatte u.a. dieses Fallbeispiel in das Diskussionsforum am frühen Sonnabend morgen mitgebracht. Dennoch wird der Mann als schuldfähig eingeschätzt – von pseudopsychotischem Erleben ist die Rede – und erhält eine lebenslange Freiheitsstrafe.

Später wird dann doch noch Schizophrenie diagnostiziert. Zehn Jahre lang „lief er einigermaßen“ im Vollzug, so Groß, zwischenzeitliche stationäre Aufenthalte inklusive. Danach habe er
20 Jahre fast durchgehend in der psychiatrischen Abteilung verbracht, „vollkommen hospitalisiert“. Geforderten „Aufschluss“ habe es kaum gegeben, berichtete der Psychiater aus Bayern, auch kein Fernsehen, Beschäftigungstherapie falle in dem Haus regelmäßig aus. Am Ende stand eine Therapieresistenz, Antipsychotika seien ohne Erfolg geblieben. Eine Entlassung war wegen attestierter Gefährlichkeit nicht möglich. Letztlich erlöste der Krebs alle Beteiligten von dem menschenrechtlichen Dilemma.

Die Mehrheit leidet an einer oder mehreren psychischen Störungen


Es handelt sich um eine kleine Randgruppe. Und eine große Menschenrechtsfrage. In Deutschland sitzen derzeit etwa 45.000 Personen in Justizvollzugsanstalten ein. Schätzungen zufolge leidet davon die Mehrheit unter einer oder mehreren psychischen Erkrankungen. Eine adäquate Versorgung erhalten die wenigsten.
Abgesehen von solchen, die haft- oder tatbedingt Ängste, Depressionen oder Suizidgedanken entwickeln, gibt es solche Gefangene, die unter dem Einfluss von Wahnideen oder Gedanken eine Tat begehen, vom Gutachter aber als schuldfähig eingestuft werden und somit, obwohl psychisch krank, im Strafvollzug landen. Eine Gruppe, über die „wir fast nichts wissen“, leitete Prof. Thomas Pollmächer, im Vorjahr noch DGPPN-Präsident, in das Thema ein. Aber: Anekdotische Berichte wiesen darauf hin, dass dort „zum Teil schreckliche Dinge passieren“.


Bei dem Forum wurden Mankos benannt, aber auch positive Beispiele skizziert. Berlin etwa. Prof. Norbert Konrad berichtete über die dortigen Verhältnisse. Berlin hat immerhin als eines von wenigen Bundesländern eine psychiatrische Abteilung im Vollzug. Bei der Aufnahmeuntersuchung würden die substanzbezogenen Störungen und deren Folgen im Mittelpunkt stehen, berichtete der Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Charité. Für den Arzt sei keine spezielle psychiatrische oder Sucht-Qualifikation vorgesehen. Die Suizidgefahr sei in den ersten drei Monaten am höchsten und bei männlichen Strafgefangenen um das 3-6 fache erhöht, bei den weiblichen um mehr als das 6-fache.
Auch wenn es in Berlin eine eigene Abteilung mit vollstationärer, quasi teilstationärer und ambulanter (Nachsorge-) Behandlung gibt, gebe es auch hier „massive Probleme“: zu wenig Personal etwa und Rollenkonflikte bei Pflegekräften – in Berlin müssten die Pflegekräfte eine Schließausbildung machen.


Positive Beispiele aus Schleswig-Holstein und Brandenburg


Positive Beispiele kamen auch aus Brandenburg und Schleswig-Holstein. Chefarzt Dr. Felix Hohl-Radke berichtete von einer gelungenen Kooperation der JVA Brandenburg mit der in unmittelbarer Nähe liegenden Asklepios Klinik Brandenburg. Eine Kooperation mit Trägern, die Ärzte zur Verfügung stellen, bezeichnete er als hilfreich, er sei „ganz zufrieden“.
„Gelobtes Land?“ war der Beitrag von Prof. Christian Huchzermeier vom Institut für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am ZIP Kiel überschrieben. Er rühmte das „psychiatrie-
freundliche“ Justizministerium des Landes und stellte das hier geplante 4-Komponentenmodell vor, von dem aber bislang erst zwei umgesetzt seien, nämlich Sprechstunden (mit langen Wartelisten) in den JVAs Kiel und Neumünster sowie 20 Plätze teilstationäre Behandlung in der JVA Neumünster. Letzteres sei einzigartig. Dafür komme ein externes Behandlungsteam aus Ärzten, Pflegekräften und Therapeuten aus Kiel nach Neumünster. Hinzu komme das Vollzugsbeamtenteam, wobei hier „zwei Welten aufeinanderprallen“ würden. Fazit: ein Gewinn, aber nicht ausreichend. „Vollzugliches“ Denken dominiere, leitliniengerechte Behandlung sei auch hier kaum möglich.

NRW: Stationäre Versorgung „völlig unzureichend“


Immerhin auf dem Weg, aber aus problematischer Richtung kommend ist NRW, worüber Heiko Manteuffel berichtete. Als Staatsanwalt im NRW-Justizministerium war er an der Unter-
suchung einer Selbstverbrennung beteiligt. 2018 war wegen einer Personenverwechslung ein 27 Jahre alter Syrer in die JVA Kleve gekommen. Nach Ende einer zweimonatigen Suizidbeobachtung, so berichtete es Manteuffel, zündete der Mann seinen Haftraum an und starb. Ob dies ein Suizid war, blieb ungeklärt. Alle Verfahren gegen Bedienstete, Ärzte oder Polizisten wurden eingestellt. Vorsätzliches Fehlverhalten habe nicht festgestellt werden können. Doch eine Expertenkommission sollte „Optimierungspunkte“ suchen.
14 Anstalten wurden besichtigt. Gut schnitt die Suizidverhütung ab: Eine Quote von 23 Toten pro Jahr bis 2001 (bei 16.000 Gefangenen pro Tag) sei auf 13 gesenkt worden – deutlich unter Bundesdurchschnitt. Ansonsten lautete das Urteil: ambulante Versorgung gerade noch ausreichend, stationär „völlig unzureichend“. Als „katastrophal“ bewertete Manteuffel die Situation mit 30 Betten – keines davon für weibliche Gefangene – und überlangen Wartelisten. Manchmal werde darüber das Haftende erreicht.

80 Kameraüberwachungen an einem Tag


Folge: Gefangene würden „nur noch verwahrt“. Akut suizidale und schwer auffällige Menschen würden kameraüberwacht. In der Spitze wurden in einer Anstalt 80 Kameraüberwachungen an einem Tag gezählt, bis in die intimsten Verrichtungen… Die gute Nachricht: Am Ende wurden 53 Empfehlungen ausgesprochen, und „das Ministerium teilte sämtliche Einschätzungen“, so Manteuffel. Es soll 160 neue Betten geben, 30-40 Betten seien schon umgesetzt, ebenso eine Verpixelung im Sanitärbereich bei Kameraüberwachung und eine Honorarverbesserung für Konsiliarärzte.


Die menschenrechtliche Position vertrat Margret Osterfeld als Vertreterin der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter. Es sei die menschenrechtliche Pflicht des Staates für die best erreichbare Gesundheit auch in Gefängnissen zu sorgen. Menschen dürften wegen ihrer Straffälligkeit nicht schlechter gestellt werden. Was sie seit Jahren umtreibe: „Im Justizvollzug gehen viele Menschen in den besonders gesicherten Haftraum mit der Begründung akute Suizidalität. Das ist in der Psychiatrie eine Notfallindikation für eine stationäre Aufnahme!“ Aber ob und wann ein Mensch in einem solchen Raum einen Psychiater sehe, sei fraglich. Sie frage sich, „wann wir das erste Amtshaftungsverfahren haben wegen unterlassener Hilfeleistung“. Osterfeld appellierte abschließend: „Wir können uns diese Zustände nicht mehr leisten, da muss dringend was passieren.“


„Suizidale Menschen einfach einzusperren ist menschenunwürdig“


Zum Thema Suizidalität machte Prof. Thomas Pollmächer in der anschließenden Diskussion deutlich, dass das vorrangige Ziel die Suizidverhinderung sei. Dass aber offenbar meist nicht in den Blick genommen werde, dass dies Behandlungsbedarf bedeute. Es sei menschenunwürdig, „suizidale Patienten einfach einzusperren und ihnen die Möglichkeit zu nehmen, sich zu suizidieren“. Dieser Mensch brauche Betreuung und Unterstützung. Da keine Personen für eine adäquate Betreuung im Vollzug vorhanden seien, wäre eigentlich immer eine Verlegung notwendig. „Die Menschen müssen ja in extremer Not sein!“


Noch komplexer macht die ganze Situation das Verfassungsgerichtsurteil zum Recht auf Suizid, das auch für Gefangene gilt. Anhängig in Karlsruhe sei nun auch der erste Prozess eines Gefangenen, der sich um einen assistierten Suizid im Gefängnis bemüht, berichtete Pollmächer.


Im Verlauf der weiteren Diskussion stellte Prof. Jürgen Armbruster aus Stuttgart den Blick schärfer: Nur festzustellen, dass klinische Versorgung in der JVA nötig ist, sei ihm zu wenig: Man müsse nach dem Äquivalenzprinzip überlegen, wie man auch andere Elemente der Gemeindepsychiatrie
in den JVA’s abbilde. Man solle diese „wie ein Quartier“ betrachten – ein Quartier mit Sozialpsychiatrischen Diensten, Pflegediensten, betreuten Wohnformen …

„Es macht mich sauwütend und traurig“


Eine Diskussionsteilnehmerin aus Sachsen beklagte, dass immer erst was passieren, jemand sterben müsse, bis es Geld für mehr Personal gebe. Ein einzigartiger Suizidpräventionsraum mit guter Umgebung sei von einigen Bundesländern als „zu schön für einen Gefangenen“ abgelehnt worden. Eine langjährige Konsiliarpsychiaterin aus Bayern berichtete frustriert und emotional über erfolglose Anträge auf Verlegung schwer kranker Menschen in die Forensik. „Die Leute gehen kränker wieder aus dem Gefängnis raus als sie vorher schon waren … Es macht mich sauwütend und traurig.“


Heiko Manteuffel regte einen Länderverbund für eine bessere Versorgung an. Dagegen warb Prof. Christian Huchzermeier für eine Kooperation mit der örtlichen Allgemein-Versorgungspsychiatrie, eigentlich sei diese auch für diese Patienten verantwortlich.
Derartige Gefangene sollten gar nicht in den Vollzug kommen. In NRW stehe dies auch in der Präambel eines Antrags aller Fraktionen, gab Manteuffel zu bedenken. Prof. Norbert Konrad kritisierte das System in Deutschland als „zu unflexibel“: „Warum muss bei verminderter Schuldfähigkeit Schluss sein? Darunter gibt es dann nur noch Haft.“ Dabei gebe es diagnostisch unklare Fälle, wo sich später eine Psychose herausstellt. Da müsse es Möglichkeiten geben, diese Unflexibilität zu überwinden.


„Sehr traumatisierende Zustände, auch für mich persönlich“


Ein ehemaliger Arzt im Vollzug lenkte den Blick schließlich auf die Umgebung in den Gefängnissen allgemein. Diese sei für kranke Insassen „äußerst unzuträglich“. Er habe in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Gefängnisse besucht und Zellen vorgefunden, die „erbärmlich gestunken“ hätten, „weil die Leute dort eingesperrt und sich selbst überlassen wurden“: „Zustände, die sehr traumatisierend auch für mich persönlich gewesen sind.“ Das System selbst sei nicht darauf eingestellt, dass 70 Prozent der Insassen psychisch krank und 3 bis 10 akut behandlungsbedürftig seien. Er schlage vor, sich auch um die Gefängnisse selbst zu kümmern und zu versuchen, eine Umgebung zu schaffen, mit der man der wahren Funktion als ein zum großen Teil „Übergangswohnheim für psychisch kranke Männer“ besser entsprechen könne.
Anke Hinrichs

(Der DGPPN-Kongress tagte Ende November 2022 in Berlin. Erstveröffentlichung des oberstehenden Berichts in der EPPENDORFER-Printausgabe 2/23)

DGPPN = Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN)