Dr. Michael Wunder war bis 2016 Mitglied im Ethikrat. Der EPPENDORFER sprach mit ihm über mögliche Folgen der (Nicht-) Entscheidung zur Suizid-Beihilfe sowie über die Auswirkungen der Debatte auf Einrichtungen der Alten- und Eingliederungshilfe.
EPPENDORFER: Wie bewerten Sie die Bundestags-(Nicht-) Entscheidung zur Suizid-Assistenz?
DR. MICHAEL WUNDER: Unter all den schlechten Lösungen ist es noch die beste.
Warum schafft es die Politik nicht, nach all den Jahren und Diskussionen eine Lösung zu finden?
WUNDER: Vielleicht liegt es daran, dass etwas geregelt werden soll, was kaum zu regeln ist. Das Bundesverfassungsgericht konstruiert ein Recht auf Suizidassistenz, das der Staat sichern soll, und gleichzeitig fordert es, dass Personen in besonders schwierigen Situationen davor bewahrt werden müssen, sich mit Angeboten der Suizidassistenz auch nur ‚näher befassen oder sich hierzu explizit verhalten zu müssen’. Wie soll das gehen?
Keiner der Entwürfe war wirklich praxistauglich. Wobei der Castellucci-Entwurf noch als der klügere und bessere erscheint.
Aber beiden Gruppen ist nicht bewusst, wie die Realität ist und was wir wirklich tun müssten, um suizidalen Menschen zu helfen. Wir zählen ca. 100.000 Suizidversuche im Jahr, ca. 10.000 vollzogene Suizide. Die Sterbehilfevereine geben die Zahl der assistierten Suizidfälle mit 350 für 2021 an, also das erste Jahr nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts. Ja, es gibt eine kleine Gruppe, die das will -– aber die steht in keinem Verhältnis zu dem, worum es geht. Jetzt gibt es mit dem Beschluss zur Stärkung der Suizidprävention wenigstens eine Chance, aber es ist nur eine Aufforderung an die Bundesregierung, bis Mitte 2024 ein Gesetz dazu vorzulegen. Wenn ich jetzt höre, dass schon wieder an einem neuen Gesetzentwurf zur Suizidassistenz gestrickt wird mit dem Ziel, das noch in diesem Jahr durchzukriegen, erstaunt und erschreckt mich das. Warum lernt die Politik nicht endlich, dass es umgekehrt gehen muss?
Aber wenn der Castellucci-Entwurf durchgekommen wäre, gäbe es jetzt immerhin die Regelung, dass Einrichtungsträger der Altenhilfe und der Eingliederungshilfe Suizidassistenz in ihren eigenen Räumlichkeiten nicht dulden müs-
sen, wohl aber in Räumlichkeiten, die sie den Nutzern als deren eigenen Wohnraum überlassen haben. Wie ist mit der Problematik von externen Sterbehelfern in helfenden Einrichtungen jetzt umzugehen?
WUNDER: Das ist richtig. Aber die Träger haben schon jetzt das Recht, Regularien abzusprechen, was in solchen Fällen zu tun ist. Es geht vor allem darum, Bewohner rechtzeitig gut zu beraten, zu betreuen, dafür zu sorgen, dass sie palliativ gut betreut werden. Solche Wünsche haben ja eine Vorgeschichte. Aber ein „in unserem Hause nicht“ halte ich für problematisch, weil es die Betroffenen zu einem Umzug zwingen würde.
In einem Tagesthemen-Beitrag beklagten jüngst Diakoniemitarbeiterinnen unangemessenes, würdeloses Verhalten von Sterbehelfern, die z.B. in Jogginghose aufträten oder das Zimmer des Sterbenden vor dessen Tod verlassen würden. Wie können sich Heime dagegen wappnen?
WUNDER: Per Hausordnung und per vorheriger Kommunikation mit allen Beteiligten. Man kann die Zusammenarbeit auch mit solchen Diensten regeln. Dass ein „Todesengel“ in der Todesstunde verschwindet, war früher usus, als wegen prinzipieller Rückholbarkeit nach Einnahme anderer Mittel als heute der Vorwurf unterlassener Hilfeleistung zu befürchten war. Heute können Helfer offiziell dabei bleiben, sie müssen nur genau dokumentieren.
Welche Folgen haben die Diskussionen und Berichte zum Thema – ploppt da bei manchem was auf, was sonst kein Thema geworden wäre, gibt es eine Zunahme von Todeswünschen?
WUNDER: Von einer Zunahme ist auszugehen. Was mich irritiert ist, dass dadurch, dass es langsam ein offizielles Angebot wird, sich jeder kranke Mensch damit auseinander setzen muss, ob er das will oder nicht. Das ist wie bei der Pränataldiagnostik (PND) – und ein „Nein“ ist dann fast anstrengender als ein „Ja“. Da wird dann fatalerweise viel Energie und Lebensfreude geopfert, um diese Frage zu klären, statt auf gute letzte Möglichkeiten zu gucken.
Was macht das mit den Mitarbeitenden? Sie haben kürzlich beim Paritätischen eine Fortbildung zum Umgang mit Todeswünschen in Einrichtungen gegeben. Was raten Sie?
WUNDER: Beobachtbar ist eine große Ratlosigkeit bei Trägern und Leitungskräften. Jede Einrichtung sollte eine Kommission bilden und eine Grundorientierung schaffen. Oft gehen Mitarbeiter sehr naiv mit Todeswünschen um nach dem Motto, ja, wenn die Leute das wollen … Das A und O ist Information und Klärung der eigenen Position und deren Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Einrichtung. In der Praxis geht es dann darum, sich verstärkt um die besonders vernachlässigten oder gefährdeten Menschen, die vielleicht auch noch körperlich schwer krank sind, zu kümmern. Mit den Schwächsten beginnen.
Vulnerablen, nicht freiverantwortlich entscheidenden Menschen zum Suizid zu verhelfen, bleibt laut StGB „Tötung in mittelbarer Täterschaft“ und wird bestraft. Reicht das nicht als Schutz? Wäre kein Gesetz besser als ein neuer Anlauf?
WUNDER: Darauf ist die Antwort schwierig. Übrig bleiben ja dann immer noch alle sogenannten freiverantwortlich urteilenden Menschen. Nur: Es gibt gar keine einheitliche Lehrmeinung, was Freiverantwortlichkeit ist.
Ich glaube manchmal, dass man Suizidbeihilfe nicht wirklich gesetzlich regulieren kann. Weil es Suizidbeihilfe in Einzelfällen, aus Liebe, aus Verzweiflung, aus der Not heraus immer gab und immer geben wird. Vielleicht ist eine Beihilfe zum Suizid auf Basis einer sehr persönlichen Beziehung, auch einer persönlichen Arzt-Patienten-Beziehung, die Ultima Ratio, wenn nichts mehr hilft – ohne Normalisierung, ohne öffentliches Angebot.
Aber jetzt ist die Debatte so eskaliert, auch durch journalistisch immer wieder aufgebauschte Einzelfälle, dass man das Ganze vielleicht nicht mehr zurückdrehen kann. Das macht die Sache so schwierig.
Interview: Anke Hinrichs