Dissoziation: Wenn
Ärzte überfordert sind

Körperliche Untersuchungen können Menschen mit dissoziativen Störungen stark triggern. Symbolfoto: unsplash

Dissoziation kommt aus dem Lateinischen. Es bedeutet trennen oder schneiden. In einem dissoziativen Zustand sind Wahrnehmung, Denken, Handeln und Fühlen getrennt bzw. werden abgespalten. Menschen, die keine Erfahrungen mit Dissoziationen haben, können sich selbst hilflos und überfordert fühlen, wenn sie auf Menschen mit solchen Zuständen treffen. Die selbst betroffene Autorin schildert, warum das für sie besonders bei Arztterminen schwierig ist – und was dagegen hilft.

„Ich habe eine Dissoziative Störung. Dissoziationen äußern sich bei mir unterschiedlich. Manchmal fühle ich mich so, als wäre ich einfach nicht richtig da. Meine Sinneswahrnehmungen sind eingeschränkt, ich habe das Gefühl, dass ich nicht richtig denken kann und kann meine Gedanken nicht greifen. Im schlimmsten Fall kann ich mich gar nicht mehr bewegen. Ich friere ein. Obwohl es von außen so aussieht, als wäre ich körperlich extrem angespannt, fühle ich in dem Moment nichts. Weder körperlich noch emotional. Deshalb sind Dissoziationen in dem Moment gar nicht so unangenehm. Hinterher allerdings schon, weil ich danach erschöpft bin und mich dafür schäme.


Die Dissoziative Störung hat auch Auswirkungen auf mein Umfeld, denn Menschen, die keine Erfahrungen mit Dissoziationen haben, können sich in der Situation selbst hilflos und überfordert fühlen. Leider habe ich mit ÄrztInnen und TherapeutInnen, die wenig Erfahrung mit Dissoziationen hatten, zum Teil schlechte Erfahrungen gemacht, wohingegen Laien automatisch hilfreich reagiert haben.

„Arzttermine sind für mich generell schwierig”


Arzttermine sind für mich generell schwierig, weil sie viele Ängste auslösen und mich vor allem körperliche Untersuchungen stark triggern können. Als ich nach einer Magenspiegelung eine Panikattacke hatte, die in eine Dissoziation überging, zogen mich eine Ärztin sowie zwei ArzthelferInnen in ein Behandlungszimmer, sagten mir, dass ich mich hinlegen solle und fingen an, mich zu untersuchen.

Dissoziationen sind bei mir Folge eines Traumas. Mich mit mehreren Personen irgendwo hinzuziehen, wenn ich nicht richtig laufen kann, weil ich meine Beine nicht spüre, fühlt sich für mich in dem Moment übergriffig an und verstärkt die Dissoziation. Auch wenn es das, mit Abstand betrachtet, natürlich nicht so ist. Für mich ist es außerdem schwierig, wenn viele Personen um mich herum sind, von allen Seiten auf mich einreden und jeder etwas anderes von mir will. Wenn Menschen aus meinem Blickfeld verschwinden, ist auch dies unangenehm. Da ich mich nicht bewegen kann, sehe ich nicht, was um mich herum passiert. Obwohl ich selbst nichts fühlen kann, nehme ich die Gefühle von anderen wahr. Wenn um mich herum alle überfordert und aufgeregt sind, überträgt sich dies auf mich und die Dissoziation wird stärker. Ein weiteres Problem war das Hinlegen. Beim Liegen bin ich sehr passiv und mache mich klein. Das fördert beides Dissoziationen. Was bei mir persönlich jedoch das viel größere Problem ist: dass das auf dem Rücken liegen an sich schon ein Trigger ist.

Auch PsychiaterInnen reagieren nicht immer langfristig hilfreich


Auch PsychiaterInnen reagieren bei Dissoziationen nicht immer langfristig hilfreich. So wurde mir in einer Tagesklinik Tavor gegeben. Sehr kurzfristig hat dies geholfen. Aber es gibt Skills, die mir deutlich zuverlässiger helfen und die weniger Nebenwirkungen haben. Die meisten starken Dissoziationen enden bei mir ohnehin nach zehn Minuten von allein. Nebenwirkungen der Medikamente halten länger an. Mir einen Igelball in die Hand zu geben war eine gute Idee, jedoch ist der Reiz für mich bei einer starken Dissoziation zu schwach, um den Ball überhaupt spüren zu können.Als ich eine berufliche Reha begonnen habe, hat zufällig ein anderer Teilnehmer einen Bildungsbegleiter gefragt, was eine Dissoziation ist. Dieser hat richtig erklärt, dass Dissoziation so etwas wie Tagtraum ist. In dieser Erklärung habe ich mich allerdings nicht wiedergefunden, und ein Gespräch hat ergeben, dass niemand bei der beruflichen Reha Erfahrungen mit Dissoziationen gesammelt hat. Dies nahm ich zum Anlass, eine Notfallinfo zu schreiben, in der steht, was mir persönlich bei einer Dissoziation hilft und was nicht. Dies macht es im Notfall für alle einfacher.

Gesunder Abstand ist vor allem bei fremden Personen wichtig


Für mich ist es sehr hilfreich, wenn Menschen um mich herum ruhig und in meinem Blickfeld bleiben, alles erklärt wird, was getan wird und nur eine Person da ist. Einen gesunden Abstand zu halten und mich nicht anzufassen, ist vor allem bei fremden Personen wichtig. Berührungen durch Menschen, denen ich vertraue, sind dagegen hilfreich, aber nur an Körperstellen, die mich nicht triggern. Es ist nicht notwendig, einen Rettungswagen zu rufen oder mir Medikamente zu geben. Sicherheit zu vermitteln und mich anzusprechen ist ebenfalls hilfreich, auch wenn ich nicht immer antworten kann.
Manchmal kann ich durch Zeichen auf Ja-Nein Fragen antworten. Für mich ist es wichtig wieder in Bewegung zu kommen. Dabei kann man mich unterstützen, indem man mich auffordert, den Blick zu heben, einzelne Körperteile zu bewegen oder aufzustehen. Wenn jedoch einzelne Fähigkeiten wie Sprechen oder das Bewegen einzelner Körperteile nicht sofort funktionieren, nicht auf diese fokussieren. Für den Fall, dass nichts hilft, habe ich immer Ammoniak dabei, was man mir unter die Nase halten kann.

Bei Arztterminen gebe ich den Behandlern vorab eine Notfallinfo


Mittlerweile habe ich gelernt, dass es wichtig ist zu kommunizieren, dass ich eine Dissoziative Störung habe und was für mich hilfreich ist. Dies kann sich von Patient zu Patient leicht unterscheiden. Für den Notfall habe ich immer eine Notfalltasche mit Skills und eine Notfallinfo bei mir. Bei Arztterminen gebe ich den ÄrztInnen vorab die Notfallinfo. Damit habe ich bisher nur gute Erfahrungen gemacht, denn so bin auch ich achtsamer für Frühwarnzeichen und kann so Dissoziationen selbst beenden, indem ich aufstehe, meinen Blick hebe, im Kontakt bleibe, anspreche, dass ich eine Pause benötige oder die Situation verlassen muss, Minzöl oder Ammoniak benutze, meinen Körper abklopfe, mich durch eine Übung im Hier und Jetzt orientiere und eine Atemübung mache. Dies klappt noch nicht immer, und es hat lange gedauert, dies zu lernen. Aber mit der Zeit ist es einfacher geworden, auch für mein Umfeld.”

Corinna Walter (Name von der Redaktion geändert)

(Erstveröffentlichung in der Printausgabe 2/24)