Notizen aus
Niedersachsen

Das Leineschloss in Hannover ist seit 1962 Sitz des Niedersächsischen Landtags. Foto: Tim Rademacher/ https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hannover_Leineschloss.jpg#filehistory

In der Kolumne „Notizen aus Niedersachsen“ greifen Vertreter des unabhängigen Landesfachbeirats Psychiatrie Niedersachsen (LFBPN) seit vielen Jahren einzelne, aus ihrer Sicht relevante Themen des Landes auf. Seit vorigem Jahr sind daran im Wechsel auch Vertreterinnen der Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen (LSPK) beteiligt.

Aus der Ausgabe 2/24

Zwang: So nicht! Bitte anders

Im Landespsychiatrieplan Niedersachsen aus dem Jahr 2016 wird auf die Notwendigkeit verwiesen, Ansätze zur zwangsvermeidenden Behandlung, insbesondere der stärkeren Nutzung bzw. Empfehlung von Patientenverfügungen, zu erproben. Im Zuge dessen forderte die Landesregierung die nach NPsychKG beliehenen Kliniken der Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf, Projektideen einzureichen. Drei Kliniken erhielten den Zuschlag und konnten ihre Vorschläge im Projektzeitraum von 2021-2023 umsetzen. Im Rahmen einer von der Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen in Kooperation mit dem Nds. Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung durchgeführten Veranstaltung am 11. 12. 2023 stellten die Projektträger ihre Ergebnisse vor und wollten damit zur Nachahmung motivieren.


Einen eindrucksvollen Input hielt Stefan Weinmann, Chefarzt der MEDICLIN Klinik an der Lindenhöhe. Für ihn ist die Minderung von (ambulanten und stationären) Zwangsmaßnahmen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gleichzeitig warb er für eine Psychiatrie, die einen konzeptionellen Rahmen bietet, um international anerkannte Menschenrechte anzuwenden.
Nach dem Input stellten sich die drei Projekte vor. Beginnend mit der Psychiatrischen Klinik Lüneburg GmbH. Deren Projektziel war es, durch die Einbindung von Genesungsbegleitenden als Co-Trainer Zwangsmaßnahmen zu reduzieren. Die Anwesenheit von Genesungsbegleitenden schuf eine vertrauensvolle, zugewandte Atmosphäre, der Sprachgebrauch sensibilisierte sich und der Austausch auf Station wurde offener. Schwierig war es zu Projektbeginn, eine Person zu finden, die den komplexen Anforderungen (hohes Maß an Einsatzbereitschaft, Reflexionsfähigkeit) entsprach. Die Klinik möchte nach der erfolgreichen Umsetzung des Projektes weitere Genesungsbegleitende einsetzen.
Das zweite Projekt beschäftigte sich mit dem Konzept der „Safewards“. Durchgeführt wurde es in der AMEOS Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Hildesheim. Das Safewards-Modell gibt einen Rahmen vor, den die Mitarbeitenden frei und individuell ausgestalten. Im Projektverlauf konnte festgestellt werden, dass die Kommunikation untereinander offener wurde. Ängste der Kinder und Jugendlichen, z.B. gegenüber dem Aufenthalt in der Klinik, konnten abgebaut werden. Das Projekt versteht sich weiter als „lernendes System“, welches zur Reflexion, Transparenz und Diskussion anregt. Es wird weiter fortgeführt.


„Behandlungsvereinbarungen in der Psychiatrie – Selbstbestimmung von Menschen mit psychischen Erkrankungen stärken“ – so lautete das dritte Projekt. Umgesetzt wurde es von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen. Entsprechend der S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ sind Behandlungsvereinbarungen (BV) Expertenkonsens mit einem hohen Empfehlungsgrad. In Göttingen ist es gelungen, mehr BV abzuschließen. Zudem wurde im Rahmen des Projektes nach den Einstellungen, Erwartungen und Hoffnungen der Patient:innen gefragt. Grundsätzlich ist eine positive Haltung gegenüber der BV zu vermerken. Weitere Ergebnisse werden demnächst veröffentlicht. Das Projekt wurde bei der DGPPN vorgestellt und wird im Klinikalltag fortgeführt.

Die vollständigen Projektergebnisse sind auf der Webseite der LSPK einsehbar. Beim Lesen der Projekte könnte einem die Redewendung einfallen: „Alter Wein in neuen Schläuchen?“ Entscheidend ist, dass alle drei Projekte Erfolge in der Minderung von Zwangsmaßnahmen aufweisen konnten. Geht es nicht am Ende darum? Es gilt im Folgenden die guten Modelle in die Praxis zu tragen und an den daraus entstehenden Fragestellungen weiterzuarbeiten. Dies führt uns zu dem Punkt zurück, dass die Minderung von Zwang eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
Fokussiert auf die Landespsychiatrieplanung Niedersachsen, auf die die Projekte zurückzuführen sind, bedeutet dies, dass nach 10 Jahren eine Aufbereitung der beschriebenen Ziele und Empfehlungen durchgeführt werden soll. Diese Fortschreibung hat die Aufgabe, die Entwicklung der Versorgungslandschaft zu reflektieren und ggf. neu zu formulieren. Um den gesamtgesellschaftlichen Blick zu ermöglichen, wird landespolitisch der Einsatz einer koordinierenden Geschäftsstelle diskutiert. Diese wäre ratsam, um das Verfahren der Fortschreibung prozesshaft und trialogisch begleiten zu können.
Jeanett Bonecke, Sabine Erven
(Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen – LSPK)

Aus der Ausgabe 1/24

Pfad zu den schwer Erreichbaren

Schwer erreichbare Klienten begegnen allen Professionen in den diversen Arbeitsfeldern: in der Arbeit mit jungen und erwachsenen psychisch erkrankten, mit suchtabhängigen, wohnungslosen, traumati-
sierten, geflüchteten und auch mit alten Menschen. Es handelt sich um Menschen, die auch als „Extremindividualisten“, „Systemsprenger“, „Drehtür-
patienten“, „Problem-Patienten“ oder „Heavy-User“ bezeichnet werden und deren Versorgung unser Gesundheits- und Versorgungssystem oft an seine Grenzen bringt.
In den Jahren 2021 und 2022 hat die niedersachsenweite Arbeitsgruppe „Gerontopsychiatrische Versorgung“ (AG 2) des Landesfachbeirates Psychiatrie (geleitet von den Gerontopsychiatrischen Kompetenzzentren und Landesfachstellen Demenz) sich mit der Versorgung dieser Personengruppe beschäftigt: Im ersten Schritt hat die AG 48 an der Versorgung beteiligte Akteure aufgelistet und in Steckbriefen beschrieben. Sie sind auf der Webseite der Landespsychiatriekoordination Niedersachsen veröffentlicht unter: www.psychiatriekoordination-nds.de/angebotssteckbriefe-geronto.


Im zweiten Schritt wurde ein Versorgungspfad zur Unterstützung der schwer erreichbaren Klientel entwickelt. Als Versorgungspfad wurde von der AG eine dauerhafte und langfristige Krisenintervention in Form einer Kommunalen Unterstützungskonferenz (KUko) mit der Einrichtung eines Beistands herausgearbeitet. In der KUko sind die unverzichtbaren Akteure der Senioren- und Pflegestützpunkte und der Sozialpsychiatrische Dienst. Da beide Akteure in Niedersachsen überwiegend in kommunaler Trägerschaft sind, ist die KUko als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge zu verstehen. Das trialogische Vorgehen ist wünschenswert. Weitere Akteure können nach Bedarf mit einbezogen werden. In der KUko erfolgt die Planung und Umsetzung der Versorgung i. S. v. Case Management. Auch präventive Maßnahmen sollen hier mitgedacht werden.


Als ein Bindeglied zwischen KUko, der Versorgungsstruktur und der betroffenen Person soll ein Beistand identifiziert werden. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf die Peergroup gerichtet werden. Entscheidend ist das vorhandene oder entstehende Vertrauensverhältnis zur betroffenen Person. Eine regelmäßige Begleitung und ggf. Schulung der Beistände sieht die AG als notwendig an.
Das Caritas Forum Demenz ist neben dem ambet Kompetenzzentrum Gerontopsychiatrische Beratung ein Gerontopsychiatrisches Kompetenzzentrum und Landesfachstelle Demenz in Niedersachsen – gefördert vom Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung. In den Jahren 2024 und 2025 wird das Caritas Forum Demenz Modellkommunen im Aufbau einer KUko und der Einrichtung ehrenamtlicher Strukturen (Beiständen) unterstützen. Als Auftakt hat am 15. November 2023 der Fachtag „Grenzen überwinden: Schwer erreichbare Klientel im Spannungsfeld zwischen System und Gesellschaft“ an der Hochschule Osnabrück stattgefunden. Zentrale Fragestellungen waren: Was kann unsere Gesellschaft leisten und wie können wir sektorale und soziale Grenzen überwinden? Wie erreichen wir Menschen, die scheinbar nicht ins System passen? Wie können wir Zugänge erleichtern? Neben bereits vorhandenen Beispielen guter Praxis wurden die gesellschaftlichen Herausforderungen, die Belastung des Versorgungssystems und der Versorgungspfad als niedersächsischer Lösungsweg vorgestellt. Am Nachmittag haben die teilnehmenden Experten aus der Versorgung in einem „World-Café“ den Versorgungspfad und seine Hürden und Chancen weitergedacht. Die Ergebnisse sollen den Modellkommunen, die diesen Versorgungspfad umsetzen, zugutekommen.


Betrachtet man Lösungsansätze in der Literatur, scheint der niedersächsische Versorgungspfad vielversprechend: Er liegt in der kommunalen Verantwortung, ist aufsuchend, unterstützt Sensibilisierung, Prävention und Weiterbildung, basiert auf Vernetzung, Case Management, Beziehungsarbeit und kann Peer-unterstützt erfolgen. Der KUko sollte es gelingen, durch eine gute Vernetzung vieler Akteure vor Ort personenzentrierte, sektorenübergreifende und kreative Lösungen zu finden. Inwieweit der Versorgungspfad Erfolg haben wird, werden die kommenden zwei Jahre der Erprobung in Modellkommunen in Niedersachsen zeigen.
Weitere Informationen zum Projekt: www.caritasforumdemenz.de/schwer-erreichbare-klientel/
Melissa Braun und Karoline Adamski (Landesfachbeirat Psychiatrie Niedersachsen; Leitung der Landesfachstelle Caritas Forum Demenz)

Aus der Ausgabe 6/23

Rückenwind aus Berlin

Dem deutschen Gesundheitssystem stehen einmal wieder große Veränderungen bevor. Karl Lauterbach will die Krankenhauslandschaft reformieren.
Bereits bei der Übernahme des Amtes des Bundesgesundheitsministers hat Karl Lauterbach auf eine Reform der stationären Versorgung gedrängt. Inzwischen ist bekannt, dass zur Rettung der deutschen Krankenhäuser die seit den 1970er Jahren geltenden Vergütungsregelungen mittels Fallpauschalen nach dem DRG-System abgelöst werden sollen. Ab 2024 bekommen die Kliniken Vorhaltepauschalen, womit erreicht werden soll, dass die Qualität der Versorgung im Vordergrund steht und nicht mehr die Anzahl der erfolgten Behandlungen. Zur Differenzierung werden die Kliniken in die Leistungsgruppen Grund-, Regel- und Zentralversorgung eingestuft. Diese Regelungen werden flankiert durch ein Transparenzverzeichnis, in das die Kliniken ihre Leistungen eintragen, damit die Qualitätsdaten öffentlich zugänglich werden.


Die psychiatrischen Kliniken sind hiervon nur wenig betroffen. Hier gab es keine Vergütung nach Fallpauschalen, d.h. eine Veränderung in Richtung Vorhaltepauschalen kommt für die psychiatrischen Kliniken nicht in Betracht. Psychiatrische Kliniken haben eine regionale Versorgungsverpflichtung, sie sind daher in der Krankenhausplanung anders zu berücksichtigen. Und seit Jahren wird für die psychiatrischen Kliniken ein pauschales Entgeltsystem umgesetzt, das nach Erkrankungsschwere und Behandlungsaufwand berechnet wird. Dieses Entgeltsystem ist wegen seiner Richtlinie zur Personalausstattung (PPP-RL) seit Jahren in der Kritik. Diese Richtlinie sanktioniert die psychiatrischen Kliniken, indem bei fehlendem Personal die Vergütung um den rechnerischen Anteil der nicht eingesetzten Personalkosten abgesenkt wird. Zusätzlich zur Belastung durch den Fachkräftemangel werden die Kliniken dafür auch noch mit Leistungskürzungen bestraft.


Nun hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beschlossen, die in der Richtlinie festgelegten Sanktionen für 2 Jahre auszusetzen, damit im Kontext der Krankenhausreform die PPP-RL an zentralen Punkten weiter entwickelt werden kann. Es wurde nämlich befürchtet, dass die Kliniken aufgrund der Mindestpersonalvorgaben ihre Versorgungsangebote reduzieren müssten und keine Möglichkeiten hätten, ihre Versorgungskonzepte weiterzuentwickeln.
Diese Weiterentwicklung ist aber vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und sich ändernder Rahmenbedingungen dringend vonnöten. In einer vielbeachteten Rede auf der Tagung der Aktion Psychisch Kranke zur Perspektive der psychiatrischen Krankenhäuser hat der Vorsitzende des G-BA, Josef Hecken, Ende September skizziert, warum es dabei gehen muss: Die psychiatrischen Krankenhäuser hätten sich mehr ambulant zu öffnen. Die Instrumente der stationsäquivalenten Behandlung, die noch stärkere Umsetzung teilstationärer Behandlung und die konsequente Nutzung von vernetzten Behandlungen mit dem ambulanten System könnten dazu beitragen, die knappen Personalressourcen effektiv am Bedarf der psychisch kranken Menschen einzusetzen. Die Richtlinie über die berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Menschen mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf (KSV-Psych-RL) biete hierfür eine gute Grundlage, so Josef Hecken. Sie müsse aber an einigen Stellen dringend praxistauglicher gemacht werden.


Die von Karl Lauterbach für den Reformprozess eingesetzte Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung hat sich auch zur Reform der Psychiatrie, Psychosomatik und Kinder- und Jugendpsychiatrie geäußert. Interessant sind hier die Empfehlungen zur settingübergreifenden Behandlung, wonach die Behandlung flexibel wechselnd nach den Bedürfnissen der Patienten vollstationär, tagesklinisch, ambulant oder aufsuchend gewählt werden sollte. Die Kommission hat sich zudem positiv zu den sektorübergreifenden Modellprojekten gemäß § 64b SGB V geäußert. Sie empfiehlt, das gegenwärtige Nebeneinander verschiedener Vergütungssysteme für vollstationäre Behandlung, Tagesklinikbehandlung, stationsäquivalente Behandlung und ambulante Behandlung einschließlich PIAs in ein einheitliches, flexibles Vergütungssystem zusammenzuführen.
Diese Reformüberlegungen entsprechen unserem niedersächsischen Konzept der Gemeindepsychiatrischen Zentren (GPZ). Jetzt gilt es für alle Beteiligten, den Rückenwind aus der Bundespolitik aufzunehmen und in Niedersachsen eine settingübergreifende Behandlung in GPZs zu implementieren. Wolfram Beins

Aus der Ausgabe 1/23

Blick in den neuen Koalitionsvertrag

Anfang November 2022 einigten sich die Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen auf einen Koalitionsvertrag in Niedersachsen. Der Titel „Niedersachsen zukunftsfest und solidarisch gestalten“ klingt vielversprechend. Dem Gesundheitswesen werden zehn Seiten gewidmet, wobei nur eine halbe Seite speziell auf das Thema psychische Erkrankungen ausgerichtet ist. Bei genauem Hinsehen wird aber deutlich, dass hier ganz wesentliche Themen Berücksichtigung finden, und manch andere Bereiche wie die Krankenhaus- finanzierung natürlich auch für die psychiatrische Versorgung relevant sind.


Letztlich stellt sich die Frage, wie viel von den guten Vorhaben in einer Legislaturperiode umgesetzt werden können. Die Etablierung gemeindepsychiatrischer Zentren ist schon viele Jahre auf der Agenda und auch in Modellprojekten erprobt. Es bleibt allerdings mit Spannung zu erwarten, wie die Politik hier Ansätze zur Finanzierung der Verstetigung finden will.
Ein weiteres Thema ist die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und hierbei ganz zentral die Etablierung einer Koordinierungsstelle für „Psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“ in Ergänzung zur bestehenden Koordinierungsstelle für die Erwachsenenpsychiatrie.


Die Erneuerung des Niedersächsischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) soll vollzogen werden, „um eine bessere Planung, Koordination und Steuerung der psychiatrischen Versorgung in Niedersachsen zu ermöglichen“. Wie viel der UN-Behindertenrechtskonvention wird dort einfließen können? Die Weiterführung und Konkretisierung von weiteren Maßnahmen zur Umsetzung des Landespsychiatrieplans wie die trialogische Ausrichtung von Hilfen, wohnortnahe aufsuchende Hilfen und nicht zuletzt die ethischen fachlichen Grundsätze fehlen aus Sicht der Psychiatrieplanung.


Könnte „zukunftsfest“ nicht auch heißen, im Verbraucherschutz (Kapitel 3) auch den Patientenschutz zu verankern, oder in der Erwachsenenbildung (Kap. 5) auch die Teilhabechancen für Menschen mit psychischen Problemen zu erhöhen, z.B. indem eine Qualifizierung durch einen EX-IN-Kurs finanziert wird? Oder das im angekündigten Teilhabe- und Partizipationsgesetz (Kapitel 7) Peerarbeit als qualifizierte Leistung anerkannt wird?


Im Kapitel 6 der Koalitionsvereinbarung zum Gesundheitswesen verstecken sich wichtige Vorhaben, die der Versorgung psychisch/psychiatrisch Erkrankter sowohl im stationären als auch ambulanten Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie zu Gute kommen können: Hierzu zählen beispielhaft die Pläne, die Corona-Pandemie im Blick zu behalten und hiervon betroffene Menschen gezielt zu unterstützen. Ferner: die flächendeckende Krankenhausversorgung zu sichern und regionale Gesundheitszentren zu fördern sowie die ärztliche Versorgung und die Notfallversorgung generell sicher zu stellen und öffentliche Gesundheitsdienste zu stärken. Und – last but not least – sollen Maßnahmen zur Verbesserung der Pflegesituation weitergeführt und Bürokratie im Gesundheitswesen und der Pflege abgebaut werden.


Kann dies unter den Maßgaben des „Comprehensive Mental Health“-Aktionsplans der WHO personenzentriert, rechtebasiert und recovery-orientiert umgesetzt werden?
Beim wohlwollenden Lesen des Koalitionsvertrags könnten also Chancen für die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit psychischen Erkrankungen antizipiert werden. So könnten auch die Errichtung von Landeswohnungs-Gesellschaften (Kapitel 1) wichtige Bausteine sein. Oder auch Projekte und Maßnahmen etwa im Bereich der Bildung (Kapitel 4) und als Teil regionaler Entwicklung „gut erreichbare hausärztliche Versorgung in Verbindung mit sozialen Einrichtungen“ in Form von Regionalen Versorgungszentren (RVZ; Kapitel 10).
Insgesamt sind im Koalitionsvertrag Werte wie Gleichberechtigung, Diversität und Teilhabe erkennbar – ob sie allerdings auch für psychiatrische Patientinnen und Patienten erlebbar werden, wird sich auch darüber zeigen, welche Synergien sich aus der neuen Ressortverteilung des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung ergeben. Können Übergänge von Transferleistungen, Lohnerwerb, EU-Rente und Alters-Rente anders als bisher gestaltet werden und somit eine echte Teilhabe an Arbeit verwirklicht werden? Beinhaltet der „Masterplan gute Arbeit“ solche Ideen?


Es ist viel geplant und viel möglich. Wir wünschen der Koalition, dass sie die Energie und das Durchhaltevermögen aufbringt, möglichst viel von diesen wichtigen sozialpsychiatrischen Vorhaben aktiv und im engen Kontakt mit der Fachöffentlichkeit zu gestalten.

Karin Aumann & Prof. Dr. Detlef Dietrich (Komm. Vorsitzende des Landesfachbeirats Psychiatrie Niedersachsen)

Aus der Ausgabe 6/22:

Themen, die bewegen!

Der Winter steht vor der Tür und mit dem Krieg gegen die Ukraine, der daraus resultierenden Energiekrise und den damit verbundenen Ängsten und Sorgen steigen die gesamtgesellschaftlichen Belastungen ebenso wie die eines jeden Einzelnen. Frühere Erfahrungen, zum Beispiel aus Kriegszeiten, brechen wieder auf – das macht sich besonders bei den Älteren bemerkbar. Das Caritas Forum Demenz (CFD) und das ambet Kompetenzzentrum Gerontopsychiatrische Beratung (KoGeBe) haben sich diesem aktuellen Thema im Rahmen des 14. Gerontopsychiatrischen Symposiums am September gewidmet. Karin Haehn, Verein Landesarbeitsgemeinschaft Psychiatrieerfahrener Niedersachsen, erinnert sich an die Vorträge im Rahmen des Symposiums und lässt diese mit sehr persönlichen Zeilen Revue passieren: „Den ersten Vortrag übernahm die fast 84-jährige Frau Prof. Dr. Annelie Keil. Sie ist Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin. Aus ihrem Mund hörten wir, wir seien Zeugen der Zeitgeschichte, Krisen seien Übergänge und es gäbe kein Leben für sich allein. Ihre Karriere, erst Heimkind, dann Flüchtlingskind und Kriegskind, gab ihr die Erkenntnis, es sei eine Kette von Erfahrungen, die zur Traumatisierung eines Menschen führten. Der Glaube an die rationale Auflösung solcher Traumata sei nicht mehr unserer Zeit gemäß. Von Ernst Bloch habe sie gelernt: „Hoffnung ist ins Gelingen verliebt.“


Über Traumata im Alter referierte Frau Maria Matzel aus der Sicht der Psychiatrie-Erfahrenen. Sie sprach tapfer über die Tatsache, dass im Alter viele Dinge mühsamer von der Hand gehen und darüber, dass wir mehr Gelassenheit bekommen und auch lernen müssen, Hilfen anzunehmen. Frau Matzel berichtete auch von ihrem Großvater, der im Konzentrationslager war, von der Roten Armee befreit wurde und in seine zerbombte Heimatstadt zurückkehrte. Märchen und Balladen konnte dieser Großvater wunderbar erzählen. Über seine schlimmen Erlebnisse sprach er nicht. Corona habe sie so erschüttert, dass sie ihren Kampfgeist zeitweise verlor. Sie weiß, dass Leib und Seele nicht vergessen und die schlimmen Gedanken und Gefühle jederzeit wieder zurückkommen können. Darum erbat Frau Matzel von unseren „Behandlern“ Nachsicht und Geduld und weniger Antidepressiva. Da bin ich ganz mit Frau Matzel einig. Ich bin der Meinung, dass alle seelischen Krisen nur trialogisch aufgelöst werden können.“ Als Highlight tituliert Haehn den Beitrag von Prof. Dr. Luise Reddemann, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin: Ihre Idee, dass es viele „Ich’s“ gibt, teile ich. Die Selbstfürsorge derer, die mit uns – traumatisierten Menschen – arbeiten, war ihr ein großes Thema und ist auch für uns „Ehrenamtler“ ein Problem: Man verliert sich so leicht in den Sorgen und Ängsten der Betroffenen. Ein liebevoller, achtsamer Umgang mit sich selbst und Loslassen können sind hier des Rätsels Lösung.


Die Berichte über die Vorträge der Referierenden verdeutlichen einmal mehr den großen Mehrwert themenspezifischer Fachveranstaltungen. In Perspektiven einzutauchen, den Blickwinkel zu verändern und sich auf neue oder wiederkehrende Themen einzulassen, stärkt und verbindet beruflich Helfende, Betroffene und Angehörige. Das CFD hat unter dem Titel „Traumatisierung durch gesamtgesellschaftliche Krisen und ihre Folgen im Alter“ ein Thema mit hoher gesellschaftlicher Relevanz aufgegriffen. Diese zu finden und auf den Punkt abzubilden ist für die Akteur*innen der niedersächsischen Sozialpsychiatrie mitunter herausfordernd. Dem CFD und KoGeBe ist dies in Zusammenarbeit mit dem Landesfachbeirat Psychiatrie Niedersachsen gelungen.


Sinnbildlich steht die Veranstaltung für eines der Kennzeichen der Sozialpsychiatrie in Niedersachsen. Immer an der gesamtgesellschaftlichen Situation, an den Herausforderungen der Menschen als Gesamtheit orientiert und damit höchst aktuell am Zeitgeschehen. Denn auch im Arbeitsfeld der (Sozial-)Psychiatrie sind wir letztlich Zeugen der Zeitgeschichte. Zeugen, aber auch Mitwirkende, die den Blick auf die Themen richten können, die die Menschen bewegen. https://caritasforumdemenz.de/14-gerontopsychiatrisches-symposium/.
Mareile Deppe und Anna Menze (Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen)

Aus der Ausgabe 5/2022:

Aufbruch in eine neue sozialpsychiatrische Bewegung!

In der Vorbereitung auf diese Notizen fand ich mich plötzlich in der Rolle des Seniors wieder, der mit Wehmut auf die vergangenen Jahrzehnte sozialpsychiatrischer Entwicklung zurückblickt und besorgt den schleichenden Abbau unserer psychiatrischen Ideen beobachtet.
Obwohl die Umsetzung des Landespsychiatrieplans in Niedersachsen auf halber Strecke gute Ansätze für eine notwendige Reform der psychiatrischen Landschaft liefert, ist nirgendwo ein Aufbruch zu erkennen. Stattdessen verspüre ich Ermüdung, Rückzug und Resignation. Dieser Zustand ist auch eine Folge der Pandemie. Der Umgang mit Covid hat zu Einschränkungen und Verunsicherungen gerade auch in der psychiatrischen Arbeit geführt.
Kontakte wurden drastisch reduziert, unklare Regeln im Umgang mit den Infektionen haben das Alltagshandeln erschwert. Vor allem hat es in den letzten zwei Jahren kaum noch Abstimmungen zwischen den Akteuren der psychiatrischen Arbeit gegeben. Dienstbesprechungen wurden reduziert, die Treffen der Arbeitsgruppen in den Sozialpsychiatrischen Verbünden eingestellt. An einigen Orten gab es Versuche, diesen Ausfall durch digitale Treffen zu kompensieren.

Die Folgen der Pandemie

Auch im Landesfachbeirat fanden die Besprechungen für lange Zeit online in Zoom-Videokonferenzen statt. Der Teilnehmerkreis hat sich darüber reduziert, aber schlimmer noch: Es gab keinen informellen Austausch mehr. Gerade in den Randgesprächen außerhalb des Protokolls wurden doch die Chancen für Veränderungsprozesse sondiert und verlässliche Bündnisse geschlossen.
Jetzt müssen wir wieder lernen, die Sprachlosigkeit zu überwinden und uns aufeinander einzulassen, damit Veränderungen machtvoll angestoßen und ihre Umsetzung gewagt werden können. Das ist im Hinblick auf den Verlust sozialpsychiatrischer Ideale dringend geboten. Neben den Pandemiefolgen hat sich in den letzten Jahren der Trend zur Bürokratisierung schleichend fortgesetzt. Wir werden schon länger von einer Flut neuer Regelungen überschwemmt. Der Bund hat den Anspruch, die sozialen Leistungen immer besser und gerechter zu machen. Die Gesetze werden immer detaillierter und nehmen damit wichtige Handlungsspielräume vor Ort. Die nachgeordneten Ebenen beim Land und in den Organen der Selbstverwaltung bei den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung schaffen es aber nicht, schlanke und praktikable Ausführungen zu erlassen. Stattdessen setzt sich das Misstrauen fort, von dem jeweiligen Partner übervorteilt zu werden. Das schafft neue bürokratische Regelungen, weil jeder Schritt rechtssicher überprüfbar werden soll.

Wir beschäftigen uns vor allem mit dem Ausfüllen von Anträgen, Formularren und Leistungsnachweisen

Im Ergebnis beschäftigen wir uns vor allem mit dem Ausfüllen und Überprüfen von Anträgen, Formularen und komplexen Leistungsnachweisen. Die knappen personellen Ressourcen werden mit zusätzlichen Tätigkeiten belastet. Eine weitere Folge dieser Entwicklung ist, dass der eingeschränkte Gestaltungsspielraum dazu führt, dass am Ende keiner verantwortlich und zuständig sein will. Damit wird Aufbruch und Bewegung verhindert.
Gleichzeitig wird zunehmend nach einer funktionierenden psychiatrischen Versorgung gerufen. Es hat den Anschein, dass in letzter Zeit die Meldungen über psychisch auffälliges Verhalten zunehmen. Zuletzt hat der folgenschwere Wurf eines Gullydeckels auf die Autobahn durch einen psychisch kranken Mann in Hildesheim große mediale Aufmerksamkeit erzeugt. Dennoch beobachten wir, dass gute sozialpsychiatrische Hilfen zur Disposition stehen. In der erfolgreich arbeitenden psychiatrischen häuslichen Krankenpflege befürchten wir erhebliche Einschränkungen, weil die Pflegedienste im Rahmen der neuen Vergütungsregelungen aufgefordert sind, ihre Mitarbeitenden besser zu bezahlen. Nur sind die Krankenkassen bisher nicht bereit, die ohnehin niedrigen Vergütungssätze entsprechend anzuheben. Wir fürchten daher, dass absehbar Mitarbeiter abwandern und Pflegedienste ihre Leistungen einstellen müssen.
Es gibt also genug Gründe, etwas gegen die Resignation zu setzen. Wir müssen den Aufbruch in eine neue sozialpsychiatrische Bewegung wagen.


Wolfram Beins (Landesfachbeirat Psychiatrie Niedersachsen)

Aus der Ausgabe 1/2022:

Für das Fach Psychiatrie werben!

Die Corona-Pandemie hat uns deutlich gemacht, dass wir in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung einen zunehmenden Bedarf an flexiblen Angeboten haben. Werden wir dem Bedarf aber gerecht werden können? Derzeit sieht es nicht so aus, als könnten wir hier zukünftig therapeutisch „aus dem Vollen schöpfen“. Der Pflegekräftemangel ist bekannt, der Nachwuchs an Ärzt*innen ist sehr begrenzt. Psycholog*innen und Fachtherapeut*innen können nur partiell die Engpässe ausgleichen. Die zunehmenden Dokumentationsanforderungen an alle in der Psychiatrie Beschäftigten, sei es, um die Krankenkassen von der Güte der Therapie zu überzeugen oder um sich vor rechtlichen Fallstricken zu schützen, werden immer umfangreicher. Sie schränken potentiell die Zeiten ein, in denen man therapeutisch mit den Patient*innen arbeiten kann. 

Die Psychiatrie wird sich wandeln, es werden andere Berufsgruppen ärztliche Aufgaben übernehmen müssen in den psychiatrischen Kliniken und Versorgungsstrukturen. Beispielhaft ist hier die Beschäftigung von Psycholog*innen zu sehen. Dies wird größtenteils ein Gewinn sein, weil so das psychiatrische Fachgebiet psychotherapeutischer wird. Ärzt*innen werden dann allerdings zunehmend, zum Beispiel in Kliniken, auf die somatisch ärztlichen Tätigkeiten sowie rechtliche Themen eingeengt. Der Zeitrahmen für eine sehr gute psychotherapeutische Ausbildung wird geringer, und es müssen möglicherweise mehr Bereitschaftsdienste geleistet werden. Ist das der Grund, warum immer mehr junge Studierende der Medizin sich nicht für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie entscheiden?

Dies ist sicherlich zu kurz gedacht. Die Psychiatrie und Psychosomatik kommt im Studium im Verhältnis zu der Häufigkeit, mit der man im ärztlichen Tun später mit psychischen (Begleit-)Erkrankungen konfrontiert wird, viel zu kurz, ist aus meiner Erfahrung fast marginalisiert. Die Lehre der Psychiatrie und psychosomatischen Grundversorgung sollte außerdem schon in der ganz frühen klinischen Phase eine größere Rolle einnehmen, damit frühzeitig Interesse für das Fachgebiet geweckt werden kann. Und es braucht in der psychiatrischen Lehre charismatische Vorbilder, die das Interesse an diesem Fach frühzeitig wecken. Die Psychiatrie steht in Konkurrenz mit vielen anderen Fachgebieten!

Wie schaffen wir das? 

Wir alle sollten uns dieses Themas annehmen. Aufklärung leisten, was die psychiatrische Versorgung so besonders macht: da sind die individuellen Lebensschicksale, in die wir Einblick bekommen und wo wir gezielte Hilfen anbieten dürfen, da ist die multiprofessionelle Arbeit, das Zusammenwirken von erfahrenen Therapeut*innen aus den Pflegeberufen, den Fachtherapien, der Sozialen Arbeit und den Ärzt*innen sowie vielen Anbieter*innen komplementärer Leistungen außerhalb der Kliniken und die Möglichkeit zum trialogischen Wirken. Wir sollten Interesse wecken an diesem wunderbaren Fachgebiet. Die Presse vermittelt leider allzu oft ein anderes Bild (ausgenommen natürlich der EPPENDORFER). Wir sollten daher Öffentlichkeitsarbeit leisten wo es geht, in Zeitungen, Funk und Fernsehen, in den neuen Medien, damit wir in zehn Jahren wieder mehr Psychiater*-innen und auch ärztliche Psychotherapeut*innen haben, um dem wachsenden Bedarf gerecht werden zu können. 

Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen! 

Prof. Dr. Detlef Dietrich (Landesfachbeirat Psychiatrie Niedersachsen, Ärztlicher Direktor AMEOS Klinikum Hildesheim und Beiratsmitglied des Projekts RTW-PIA) 

Aus der Ausgabe 6/2021:

Eine Frage der Haltung!

Deutschland hat gewählt! Etwa 6 Millionen Wahlberechtigte in Niedersachsen konnten an der Bundestagswahl teilnehmen. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen dies zukünftig auf die Gesundheitspolitik – im Spezifischen auf die Themenfelder der Psychiatrie – haben wird. 

Durch politische Entscheidungen wird der Rahmen für unser Handeln geschaffen, tagtäglich beeinflussbar bleibt jedoch die Haltung jedes Einzelnen! Die eigene Haltung baut auf Wertevorstellungen und Prinzipien auf. Durch sie werden Spielräume gefüllt, die bei der Ausgestaltung des politisch geschaffenen Grundgerüsts verbleiben. Um es mit den Worten von Antoine de Saint-Exupéry zu sagen: „Auf die Haltung allein kommt es an.“

Was bestimmt unsere Haltung? Mit welcher Haltung wollen wir arbeiten und uns begegnen? Diese Fragen finden sich in unser aller Alltag und somit auch im Feld der Psychiatrie wieder.

Deutlich wird dies in vielerlei Hinsicht. Mit der Fortbildungsreihe zum Offenen Dialog setzt der Verein EX-IN Niedersachsen e. V. gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. (DGSP) ein wichtiges Signal für die Weiterentwicklung der Psychiatrie in Niedersachsen und wirbt damit für eine Haltungsänderung innerhalb der Behandlung. Auch die Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen (LSPK) hat sich der Thematik des Offenen Dialoges angenommen und im August ein Live-Interview mit ausgewiesenen Expert*innen durchgeführt. Dabei kristallisierte sich heraus, was eine Haltungsänderung innerhalb der Behandlung sowohl für die Betroffenen als auch für das Fachpersonal bedeuten kann. Ein Satz wird auch nach dem Interview noch lange in Erinnerung bleiben: „[…] eine Grundvoraussetzung, um mit dem Offenen Dialog zu arbeiten, liegt in der Bereitschaft, die eigene Haltung [als Professionelle*r] zu überdenken“. Diese Bereitschaft regt zur Selbstreflexion an und lässt sich sicherlich auf andere Bereiche übertragen.

Auch im Kontext der Gemeindepsychiatrischen Zentren (GPZ) gilt es, Haltung zu bewahren. Die drei geförderten Modelle aus Braunschweig, Cuxhaven und dem Heidekreis laufen zum Ende des Jahres aus. Eine Weiterfinanzierung der GPZ ist nach aktuellem Stand noch unsicher. Leichte Hoffnung weckt aktuell der erste Entwurf der „Richtlinie über die berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf“ (KSVPsych-RL). Der Gemeinsame Bundesausschuss hat am 02.09.2021 die Erstfassung der Richtlinie beschlossen. Eine vernetzte und interdisziplinär koordinierte Therapie steht dabei im Vordergrund. Ausstehend sind eine Prüfung und Genehmigung des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Richtlinie wird daher voraussichtlich erst Mitte 2022 in Kraft treten können. Nun gilt es, umgehend Möglichkeiten zur Überbrückung der Finanzierung der GPZ zu finden. Diesem Thema widmet sich auch weiterhin die AG 4 „Steuerung und Vernetzung“ des Landesfachbeirates Psychiatrie Niedersachsen.

Neuigkeiten gibt es auch aus der LSPK zu berichten. Die neue Projektdatenbank auf der Webseite der LSPK soll ein Voneinander-Lernen ermöglichen. In Niedersachsen gibt es bereits viele Projekte und Initiativen, die sich mit der Behandlung, Begleitung und Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen beschäftigen. Mit der Veröffentlichung der Projektdatenbank werden großartige niedersächsische Projekte zum Thema sichtbar – ganz nach dem Motto „Gutes tun und darüber sprechen“. Die Haltung macht’s!

Aus unseren Haltungen werden letztlich auch Handlungen. Lassen Sie uns daher mit gutem Beispiel vorangehen und aus unserer Haltung heraus die zukünftigen Handlungen im psychiatrischen Feld mitbestimmen. Dabei sollte dem Vernetzungsgedanken und einer gemeinsamen, auf Augenhöhe stattfindenden Gestaltung eine zentrale Bedeutung zugeschrieben werden. 

Anna Menze und Mareile Deppe (Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen)

Aus der Ausgabe 4/2021:

Intensive Wiedereingliederung

Einmal Rente, immer Rente. Die Rückkehr in die Erwerbsfähigkeit nach einer Berentung aufgrund einer psychischen Erkrankung gelingt eher selten. Umso wichtiger erscheint es, eine Berentung rechtzeitig abzuwenden und möglichst früh bei bestehender Arbeitsunfähigkeit zu intervenieren. Wer einen sinnstiftenden und eigentlich guten Arbeits-platz hat, sollte möglichst intensiv bei der Rückkehr an diesen Arbeitsplatz unterstützt und begleitet werden. Ein häufiges Problem in diesem Zusammenhang sind leider die nicht selten bei psychiatrisch erkrankten Menschen auftretenden langen Krankheitsverläufe mit anhaltenden kognitiven und emotionalen Störungen oder betriebliche Hürden. Hier setzt eine durch den Innovationsfond geförderte Studie zur Rückkehr an den Arbeitsplatz bei psychiatrischer Erkrankung (Return-to-Work-Studie = RTW-PIA) an. An ihr sind zwei Kliniken aus Niedersachsen unter der Konsortialführung der Medizinischen Hochschule Hannover beteiligt. An dem mit insgesamt 4,3 Millionen Euro geförderten Versorgungsforschungs-Projekt nehmen neben den niedersächsischen Kliniken (Burghof-Klinik Rinteln und Medizinische Hochschule Hannover) auch psychiatrische Kliniken in Hamburg-Harburg, Berlin und Bad Berleburg teil. 

Die Studie hat zum Ziel, die betriebliche Wiedereingliederung psychisch erkrankter Menschen intensiv zu unterstützen, die Nachhaltigkeit der Rückkehr zu verbessern und hierdurch auch Rückfälle zu verhindern. Dies geschieht in den jeweiligen Psychiatrischen Institutsambulanzen mit einem speziellen aus mehreren Modulen bestehenden Programm. 

Die Module umfassen eine allgemeine Aufklärung zu den Themen Arbeit und Gesundheit (Modul 1) – und für die Interventionsgruppe in den ersten Monaten eine detaillierte Erfassung beruflicher und privater Problemlagen, arbeitstherapeutische Maßnahmen, sozialarbeiterische Unterstützung und psychologische Gespräche – sowie Besuche in den jeweiligen Betrieben (Modul 2). Über einen Zeitraum von bis zu 12 Monaten erfolgt zusätzlich eine psychotherapeutische Begleitung in einer Gruppe Betroffener (Modul 3), in der u.a. betriebliche Rahmenbedingungen, eigene Wünsche und Bedürfnisse, Konfliktmanagement, achtsamkeitsbasiertes Verhalten, die Selbstwirksamkeit sowie die Work-life-balance thematisiert werden. Durch diese Gruppe sollen der Austausch über eigene Erfahrungen und individuelle Lösungsmöglichkeiten angeregt werden. 

Eine Web-basierte Nachbetreuung nach frühestens 6 Monaten bis zu 18 Monaten nach Einschluss (Modul 4) rundet die RTW-Studie ab. Das erarbeitete Programm basiert auf positiven Vorerfahrungen der beteiligten Kliniken und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und berücksichtigt neben den individuellen Bedürfnissen die sozialen und betrieblichen Ressourcen. Im Rahmen der Studie wird außerdem ein Handbuch erstellt, das die Nutzung dieses intensiven RTW-Verfahrens in anderen Kliniken erleichtern und die Regelfinanzierung vorbereiten soll. 

Hinsichtlich der wissenschaftlichen  Fragestellung wird durch die BAuA in Kooperation mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg geprüft, ob diese neue Versorgungsform im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zu einer nachhaltigeren Reduktion der Arbeitsunfähigkeits-Zeiten führt. In der Kontrollgruppe erhalten Betroffene durch die Institutsambulanzen die sonst übliche Behandlung und Unterstützung bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz. Weitere Ziele sind die Risikominimierung von Erwerbsminderung durch eine verbesserte Rezidivprophylaxe sowie die Kostenreduktion für Sozialversicherungen, Betriebe und die Gesellschaft. Und last but not least: einen hoffentlich langfristig zufriedenen und gesunden Menschen!

Die Ergebnisse dieser Studie werden wir zwar erst in knapp vier Jahren sehen, wir werden aber schon heute daran erinnert, wie hilfreich eine gelungene Unterstützung psychisch erkrankter Menschen bei der Rückkehr an einen geeigneten Arbeitsplatz sein kann!

Prof. Dr. Detlef Dietrich (Landesfachbeirat Psychiatrie Niedersachsen, Ärztlicher Direktor AMEOS Klinikum Hildesheim und Beiratsmitglied des Projekts RTW-PIA) 

Aus der Ausgabe 3/2021:

Es werden Impulse gesetzt!

Der Wonnemonat Mai gibt Anlass zur Freude: die Blumen blühen, auch die Wetteraussichten werden besser und damit sicherlich auch die Gemütslage einiger von uns. Die Redensart „Brücken bauen“ könnte die psychiatrischen Entwicklungen in Niedersachsen der letzten Monate perfekt zusammenfassen. Vielfältig, vielgestaltig und stetig im Trialog wurde dem Thema, welches Niedersachsen aktuell sehr bewegt, Schwung verliehen: der Aufbau und die Etablierung von Gemeindepsychiatrischen Zentren (GPZ). 

So wurden in den letzten Monaten Personen, Interessierte und wichtige Partner*innen im Prozess der Etablierung und Verstetigung von GPZ zusammengebracht. Im Juni 2020 begann der Austausch über die, vom Psychiatriereferat des niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung organisierte und moderierte, Projektbegleitgruppe (PBG) zu den GPZ. Seit Januar 2021 ist die wissenschaftliche Begleitung des Instituts für Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e. V. (ISP) Teil der Gruppe. Ihr Auftrag – die Entwicklung eines Standards für GPZ und eines Konzepts zur Umsetzung dieser Standards – steht seitdem im Mittelpunkt der Sitzungen. Eine erste Definition des noch recht universell einsetzbaren Begriffs GPZ ist eruiert. Zudem liegt ein zweiter Entwurf des Indikatorensets zu Struktur- und Prozessmerkmalen eines GPZ vor. Zeitnah erfolgt eine Abstimmung des Sets in einem Workshop mit Angehörigen und Krisenerfahrenen. 

Darüber hinaus ist geplant, in einen Erfahrungsaustausch mit Verantwortlichen des niederländischen FACT-Modells zu treten. Flankierend zur PBG hat die AG 4 „Steuerung und Vernetzung“ des Landesfachbeirates Psychiatrie Niedersachsen im April erstmals online getagt. Die Herausforderung für die GPZ wird sein, die Systeme SGB V (Krankenbehandlung) und SGB IX (Eingliederungshilfe), ergänzend auch SGB XI (Pflege), zu einem übergreifenden Leistungskomplex zusammenzuführen. Diesem Thema widmet sich die AG 4 und fragt sich, wo Hürden des Datenschutzes und der Fragmentierung in den einzelnen Leistungsbereichen der unterschiedlichen Systeme sind und wie diese überwunden werden können. 

Die Diskussionen und Rückmeldungen in den unterschiedlichen Arbeitsgruppen sind vielseitig. Fragen zu Aspekten, wie z.B. der Finanzierung eines GPZ, der Rollenveränderung der niedersächsischen Sozialpsychiatrischen Dienste, der Aufnahme der Peerbegleitung als regelhaftes Versorgungselement im SGB V sowie dem Eruieren eines individuellen Krisenmanagements gilt es zu beantworten. Nicht außer Acht zu lassen sind aber auch Qualitätsmaßstäbe eines GPZ. 

Zudem ist ein wenig Eile geboten: Die drei geförderten Modelle aus Braunschweig, Cuxhaven und dem Heidekreis laufen zum Ende des Jahres aus. Es wäre schade, wenn die mühevolle Arbeit, das große Engagement und der unglaubliche Einsatz einfach im Sande verlaufen würde. 

Unter der Maßgabe „Brücken bauen“ verläuft auch die diesjährige Planung der Psychiatrietage Loccum. Im Mai wird eine 6-teilige Online-Workshopreihe zu unterschiedlichen Themen, die unter dem Blickwinkel „Brennglas Pandemie“ zu betrachten sind, beginnen. Das Programm wird derzeit finalisiert und bald auf der Website der Akademie Loccum (https://www.loccum.de/) sowie auf der Website der LSPK (www.psychiatriekoordination-nds.de) veröffentlicht.

Und noch eine Nachricht, die Freude bereitet: Im April 2021 konnte die Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen (LSPK) auf ein Jahr Koordinations- und Vernetzungsarbeit zurückblicken. Eine spannende, aufreibende und umtriebige Zeit liegt hinter uns. Wir haben viele interessierte und engagierte Menschen kennenlernen dürfen. Einiges konnten wir gemeinsam mit ihnen bewegen und voranbringen. Ab dem 1. Mai beginnt nun die zweijährige Verstetigungsphase. Hier ist u.a. eine Fortsetzung der Lesereihe „Lesungen im Dialog – Psychiatrie mal Anders“ ab November 2021 geplant. In unserer ersten Lesung der zweiten Staffel werden wir mit Thelke Scholz, Jann Schlimme und Renate Seroka über ihr Werk „Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen“ sprechen. Weitere Autor*innen sind Carlotta Frey, Florian Reisewitz und Jakob Hein. Wir freuen uns schon sehr auf die neuen Impulse sowie die Diskussion. 

Sie sehen: Es ist viel in Bewegung. Lose Fäden werden verknüpft und auch in Zukunft wird gemeinsam nach adäquaten und niedrigschwelligen Lösungen gesucht.     

Jeanett Radisch (Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen) 

Aus der Ausgabe 2/2021:

Dezentral und gemeindenah!

Die Gesundheitspolitik in Niedersachsen ist in der öffentlichen Wahrnehmung auf ein Thema reduziert. Das in weiten Teilen unbeholfene Agieren in der Bewältigung der Pandemie dominiert die Berichterstattung. Die Verantwortlichen im Sozialministerium haben sich bei der Organisation der Impfkampagne nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Es begann mit dem Versand der Einladungen zur Impfung an alle Bürgerinnen und Bürger über 80 Jahre, der anfangs über die unvollständige und fehlerhafte Adressdatei der Deutschen Post erfolgte, und es endete vorerst mit der dilettantischen Zuweisung von Impfter-minen, wobei vielfach die hochaltrigen Impfberechtigten Termine weitab von ihrem Wohnort zugewiesen bekamen. Da darf es nicht verwundern, wenn Forderungen zum Rücktritt der zuständigen Ministerin laut werden.

Hieran ist wieder einmal deutlich geworden, dass die im Ministerium für die Gesundheit zuständigen Beamtinnen und Beamten eine obrigkeitsstaatliche Haltung verkörpern, wonach wichtige Entscheidungen zentral geregelt werden, anstatt die Expertisen der Fachgremien in den Kommunen und bei den Gesundheitsdiensten frühzeitig einzubinden. Die Landkreise und Städte in Niedersachsen haben wiederholt darauf hingewiesen, dass nach dem raschen Aufbau der Impfzentren auch die Organisation der Impfungen effektiv vor Ort erfolgen könne. 

Mit Beginn der sozialpsychiatrischen Bewegung gilt als Leitlinie eine dezentrale und gemeindenahe Ausrichtung und Umsetzung der psychiatrischen Versorgung. In allen sozialpsychiatrischen Plänen des Landes und der Kommunen ist eine Festlegung auf die Gemeindepsychiatrie verankert. Wir hatten gehofft, dass das mittlerweile auch bei den ministerialen Verantwortlichen handlungsleitend sein sollte. Aber das Auftreten in der Pandemiebekämpfung hat offenbart, dass immer noch viel Überzeugungs- und Entwicklungsarbeit gefordert ist.

Im Januar 2019 hat der niedersächsische Landtag eine Enquetekommission zum Thema „Sicherstellung der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung in Niedersachsen – für eine qualitativ hochwertige und wohnortnahe medizinische Versorgung“ eingesetzt. Es sollten neue Lösungsansätze zu Fragen der gesundheitlichen Versorgung erarbeitet werden. Mittlerweile liegen die Ergebnisse vor. 

Es wundert nicht, wenn hier sektorenübergreifende Versorgungsstrukturen unter Einbeziehung der Digitalisierung als entscheidender Faktor für eine erfolgreiche und an Patientinnen und Patienten orientierte Gesundheitsversorgung empfohlen werden. Eine Bündelung der Versorgung in regionalen Gesundheitszentren soll zur Umsetzung beitragen. Das hatten wir im Landespsychiatrieplan in weiten Teilen schon vorab empfohlen.

In der Präsentation der Ergebnisse der Enquetekommission Anfang Februar wurde immer wieder auf die Erfahrungen im Umgang mit der Pandemie hingewiesen. Hieraus müssten Lehren für die weitere Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung für die nächsten zehn Jahre gezogen werden. Sollte das nicht gelingen, müssten tatsächlich die Verantwortlichen im Ministerium und in der Landesverwaltung den Stuhl räumen und zukunftsorientierten Sachverständigen Platz machen.

Die Psychiatrie des Landes hat sich längst mit gemeindepsychiatrischen und patientenorientierten Lösungen auf den Weg gemacht. Die Entwicklung der gemeindepsychiatrischen Zentren (GPZ) nimmt langsam Fahrt auf. Eine Evaluation der niedersächsischen GPZ durch das Institut für Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e. V. ist mittlerweile gestartet. Erste Berichte aus den Modellregionen versprechen einen erfolgreichen Schub für die niedersächsische Gemeindepsychiatrie. Wir werden nach ersten Ergebnissen der Evaluation noch ausführlicher berichten. 

EX-IN-Weiterbildung: Offener Dialog

Auch weitere Empfehlungen des Landespsychiatrieplans werden umgesetzt. Anfang Juni beginnt unter Federführung von EX-IN Niedersachsen in Hannover eine Systemische Weiterbildung der DGSP zur sozialraumorientierten Netzwerkarbeit nach der Methode des Offenen Dialogs. Dabei bilden Netzwerkgespräche mit dem sozialen System der Klienten das zentrale therapeutische Element. Diese Weiterbildung sollte angesichts der vielen Herausforderungen unbedingt genutzt werden: www.ex-in-niedersachsen.de.

 Wolfram Beins (Vorstand des Landesfachbeirats Psychiatrie Niedersachsen – ein Fachgremium, das im Auftrag des Niedersächsischen Sozialministeriums die politischen Entscheidungsträger berät, sich aber auch als kompetenter Ansprechpartner in Sachen Psychiatrie im Lande versteht) 

Aus der Ausgabe 1/2021:

Hausarztpraxen im Blick

Die zentrale Rolle von Hausärztinnen und -ärzten für Diagnostik und Langzeit- behandlung von akuten und chronischen psychischen Störungen sowie für die Koordination von deren Anliegen sowie die oft lebenslange Betreuung ist unbestritten. Hausärztinnen und -ärzte stellen hiermit eine wichtige und anerkannte Säule unseres Gesundheitswesens dar. Gelingen können die genannten Aufgaben insbesondere bei einer guten und engen Zusammenarbeit mit anderen Spezialistinnen und Spezialisten.


Die Arbeitsgruppe 3 (Allgemeinpsychiatrie) des Landesfachbeirats Psychiatrie Niedersachsen (LFBPN) hat die Situation der Hausärzteschaft ins Blickfeld gerückt, denn 70-80 Prozent der psychisch kranken Menschen werden primär hier versorgt. In der Hausarztpraxis erfolgen in der Regel die erste Diagnosestellung einer psychischen Störung und die ersten therapeutischen Schritte. Hier werden auch lange Wartezeiten bis zu einer psychotherapeutischen Behandlung oder einer fachärztlichen Mitbetreuung überbrückt. Ein weiteres Problem ist die eher spärliche und teils nicht bekannte Verfügbarkeit komplementärer sozialpsychiatrischer Angebote insbesondere in den ländlichen Regionen. Dies hat zur Folge, dass eine leitliniengerechte Behandlung psychiatrisch Erkrankter oft schwierig ist.


Diese Situation hat den Landesfachbeirat bewogen, sich der Frage nach eventuellen Unterstützungsbedarfen des Hausärztebereichs genauer zu widmen. Vor dem Hintergrund seiner bisherigen Arbeit zu diesem Thema konnte das Niedersächsische Sozial- und Gesundheitsministerium dafür gewonnen werden, eine wissenschaftliche Ausarbeitung über die bestehende Literatur finanziell zu unterstützen. In einem zweiten Schritt ist dann eine Befragung von Hausärztinnen und Hausärzten geplant, um zu spezifizieren, was in der Praxis tatsächlich an Unterstützung benötigt wird und um zukünftig gezielter unterstützen zu können.


Vorbereitend wurden in persönlichen Gesprächen der Beteiligten und im Rahmen eines Workshops in der Evangelischen Akademie in Loccum bereits einige Ideen hierzu entwickelt: Wichtige Themen, die von Unterstützungsangeboten profitieren könnten, sind beispielsweise die Arbeit an Schnittstellen zwischen den hausärztlichen Praxen und den Anbietern sozialpsychiatrischer Leistungen sowie die Krisenintervention vor dem Aufsuchen einer Facharztpraxis. Ein Nebeneinander verschiedener Behandlerinnen und Behandler und Leistungserbringer*innen erfordert zudem eine grundsätzliche Klärung, wer den Prozess von Diagnostik und Behandlung beim Vorliegen einer primären psychischen Störung steuern sollte.


Darüber hinaus erscheint Unterstützung in folgenden Bereichen naheliegend bzw notwendig: Geeignete Fort- und Weiterbildungsangebote (hilfreich wären gemeinsam konzipierte Symposien/Fortbildungsveranstaltungen und gemeinsam erarbeitete Kurzlehrbücher), diagnostische Hilfen insbesondere zur Früh- und Differential- diagnostik psychischer Erkrankungen, die auch von Medizinischen Fachangestellten durchführbar sind (z.B. PHQ-D-Fragebogen), Konsiliarische Unter- stützung/Beratung im Falle einer Verdachtsdiagnose oder im Falle einer Krisensituation (z.B. kurze Telefon- beratung durch den Sozialpsychiatrischen Dienst oder die nächste Psychiatrische Institutsambulanz), Förderung des fächerübergreifenden Informationsaustausches (z.B. über die bestehenden hausärztlichen Qualitätszirkel, in die psychiatrische Kolleginnen oder oder Anbieter sozialpsychiatrischer Leistungen eingeladen werden können).


Hinsichtlich psychiatrischer Notfälle haben sich Qualitätszirkel (Runde Tische) bewährt, an denen auch Vertreterinnen und Vertreter der Gerichte, der Polizei, der Notaufnahmen, Rettungsleitstellen, der Ordnungsbehörden, Gesundheitsämter/Sozialpsychiatrischen Dienste etc. teilnehmen. In einem solchen Rahmen können Probleme insbesondere im Hinblick auf das Schnittstellenmanagement meist sehr gut geklärt und die Kommunikation intensiviert werden. Ferner unterstützt werden sollte auch das Lernen von guten Kooperationsbeispielen (eine gute hausärztliche Einbindung und Kommunikation wurde z.B. bereits in der Palliativversorgung etabliert). Diese können als Best-Practice-Beispiele und Ideenpool für andere Herausforderungen in den Blick gerückt werden.

Zu hoffen ist, dass durch solche und andere Initiativen die hausärztliche Arbeit erleichtert und ein wenig attraktiver wird! Anregungen und gute Ideen/ Best-Practice-Beispiele in diesem Zusammenhang sind herzlich willkommen!

Prof. Dr. Detlef Dietrich
(Sprecher der AG 3 (Allgemeinpsychiatrie) des LFBPN, Kontakt: Detlef.Dietrich@burghof-klinik.de)

Aus der Ausgabe 6/2020:

Besser vernetzen – Gemeinsam mehr erreichen

Die Leserinnen der Notizen werden es schon erwartet haben: Heute keine Notizen von Wolfram Beins! Wolfram Beins, der die Psychiatrielandschaft in Niedersachsen gestern wie heute nachhaltig gestaltet und geprägt hat, zieht sich zurück. 30 Jahre lang begleitete uns seine wertschätzende, offene Art, die auch bei heiklen und kritisch diskutierten Themen stets reflektierend und zugewandt war. Er fand u.a. in den Notizen aus Niedersachsen immer passende, wenn auch nicht immer unkritische Worte, um die Lage der psychiatrischen Versorgung in Niedersachsen zu skizzieren.

Heute nun übernehmen wir (die Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen – LSPK) in rotierender Autorinnenschaft gemeinsam mit Vorsitzenden des Landesfachbeirates Niedersachsen diese Kolumne. Als vernetzende Landesstelle freuen wir uns ganz besonders, mit dem EPPENDORFER ein weiteres Forum zur Darstellung unserer Arbeit und damit auch der Geschehnisse der aktiven Psychiatrielandschaft Niedersachsens zu finden.Wir setzen uns für einen barrierefreien landesweiten Informationsfluss ein, der Psychiatrieerfahrene und ihre Angehörigen, Professionelle aus Versorgung und Wissenschaft und die Politik gleichermaßen erreichen, unterstützen und vor allem zusammenbringen soll – für eine vernetzte Versorgungslandschaft, in der erfolgreich und auf Augenhöhe gemeinsam und an gemeinsamen Zielen gearbeitet wird. Das Publikationsmittel unserer Wahl ist hier – und gerade aktuell – das Internet. Sie finden uns unter www.psychiatriekoordination-nds.de.

Im September startete die fünfteilige Reihe „Lesungen im Dialog“ der LSPK. In Online-Lesungen bringen Autorinnen den Zuhörerinnen Psychiatrie auf einem etwas ungewöhnlichen Weg nahe – über Literatur. Damit steht die Reihe im Spannungsfeld zwischen Abendprogramm und Informationsvermittlung. Zum Auftakt wurde es spannend. Psychiater und Autor Thorsten Sueße las aus seinem Krimi „Schöne Frau, tote Frau“. Im begleitenden Dialog berichtete er aus seiner beruflichen Praxis, klärte über Schizophrenie auf und umriss die Aufgaben eines Sozialpsychiatrischen Dienstes.

An anderer Stelle machen sich derweil fünf Regionen auf den Weg zu eigenen Gemeindepsychiatrischen Zentren (GPZ). Prozesshafte Unterstützung erhalten die Akteure aus Cuxhaven, Braunschweig, Wolfsburg, Harburg und dem Heidekreis in einer begleitenden trialogisch aufgebauten Projektgruppe. Es beteiligen sich weitere Expertinnen aus Versorgung und Wissenschaft sowie Vertreterinnen von Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen. Im Rahmen dessen hat das Sozialministerium eine Ausschreibung zur Entwicklung von Standards und Qualitätsindikatoren für den Aufbau und die Prozesse von GPZ veröffentlicht. Wir sind gespannt, wer die Projektgruppe zukünftig fachlich flankieren wird. Die nächsten Monate und Jahre werden ereignis- und erkenntnisreich. Vieles ist in Bewegung und besitzt das Potential, die psychiatrische Versorgung in Niedersachsen nachhaltig zu verändern.

Weitere positive Nachrichten erreichten uns: Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert in den niedersächsischen Landkreisen Heidekreis, Lüchow-Dannenberg und der kreisfreien Stadt Wilhelmshaven den Aufbau von „Lokalen Allianzen für Menschen mit Demenz“. In den regionalen Netzwerken arbeiten Institutionen, Kommunen, Versorger und andere Akteure zusammen, um Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen vor Ort bestmöglich zu unterstützen, Angebotstransparenz zu schaffen, Angebote aufeinander abzustimmen und Innovationsplanung anzustoßen. Nicht zuletzt die Situation während des Lockdowns hat gezeigt, dass die Versorgung von Menschen mit Demenz sensibler, integrierter und krisenfester Ansätze bedarf – die zuallererst auf eine unbedingte Zusammenarbeit mit den Angehörigen setzen.

Zu guter Letzt: In guter alter Tradition findet auch in diesem Jahr wieder das Gerontopsychiatrische Symposium statt. Am 18.11.2020 laden die Gerontopsychiatrischen Kompetenzzentren, als ebenfalls vom Land geförderte Initiativen, zum virtuellen fachlichen Austausch ein. Kommen Sie dazu! Die LSPK wird diese und weitere Entwicklungen auch zukünftig begleiten und wo es uns möglich ist, unterstützen.


Jeanett Radisch, Marius Haack
(Landesstelle Psychiatriekoordination Niedersachsen)

(Anmerkung der Redaktion: Unmittelbar nach Erscheinen dieser Notizen rotierte das Personalkarussell: Marius Haack wechselte in die Pandemieplanung für Niedersachsen. Seine Aufgaben in der Landesstelle Psychiatriekoordination übernahm die studierte Gesundheitsmanagerin Sandra Surrey. Sie ist bereits seit 2011 als Fachreferentin für Gesundheitsförderung bei der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. tätig.)

Aus der Ausgabe 5/2020:

Wie machen wir weiter?

Wie machen wir weiter – Diese Frage beschäftigt mich mehr als sonst bei der Vorbereitung für die Notizen aus Niedersachsen. Durch Corona sind wir gezwungen, persönliche Begegnungen drastisch einzuschränken. Seit März haben keine Sitzungen mehr stattgefunden, wir haben uns nur notdürftig in Telefonkonferenzen abstimmen können. Große Bewegungen sind dadurch nicht entstanden. Die Arbeit fand überwiegend im Home-Office statt und war auch auf das Nötigste beschränkt. In der Aussicht auf länger andauernde Einschränkungen durch die Pandemie haben die Stellen im Land die Digitalisierung vorangetrieben. Jetzt versuchen wir es mit Videokonferenzen, da können wir uns wenigstens auch optisch verständigen und die Besprechungen werden weniger anstrengend. 

Für mich kommt noch eine persönliche Veränderung hinzu. Seit Anfang des Jahres bin ich aus der beruflichen Tätigkeit in der Psychosozialen Beratungsstelle in Celle ausgeschieden und genieße mittlerweile das aktive Rentnerleben. Auch damit stellt sich die Frage wie wir weitermachen.

Wir werden diese Notizen aus Niedersachsen auf verschiedene Schultern verteilen. Die Leser des EPPENDORFER werden künftig von mehreren Autorinnen und Autoren über die psychiatrischen Entwicklungen in Niedersachsen informiert. Es werden die Mitstreiter im Vorstand des Landesfachbeirats Psychiatrie zu Wort kommen – und auch ich bleibe noch etwas am Ball. Ferner soll auch die neue Landesstelle Psychiatriekoordination an dieser Stelle über ihre Aktivitäten berichten.

Deeskalation auf Akutstationen und bauliche Planungshilfen

Es gibt noch einiges zu tun und es tut sich was. Der Landesfachbeirat beschäftigt sich gerade mit Konzepten für eine deeskalierende Gestaltung von psychiatrischen Akutstationen. In enger Abstimmung mit dem Psychiatriereferat des Sozialministeriums werden demnächst Planungshilfen zu baulich-architektonischen Strukturen von psychiatrischen Akutstationen formuliert. Wir möchten, dass sich zukünftig alle Krankenhausplaner hieran orientieren.

In Zusammenarbeit mit EX-IN in Niedersachsen werden wir Empfehlungen zum Einsatz von Genesungsbegleiterinnen und Genesungs- begleitern in psychiatrischen Einrichtungen herausgeben und proaktiv der Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer mehr Gehör verschaffen. Dazu gehören auch Angebote zur Stärkung der Selbsthilfe. Wir wollen erheben, wo der Lockdown Selbsthilfepotenziale gestärkt hat und wo sich Defizite in der sozialpsychiatrischen Versorgung gezeigt haben. Wir werden dann möglicherweise die Balance von Selbsthilfe und professioneller Unter-stützung neu ausloten müssen.

Auf dem Programm steht weiterhin das Angebot von Open-Dialog-Fortbildungen. Wir wollen die guten Erfahrungen mit dieser Form der Netzwerkgespräche aufgreifen und die Arbeit in den Behandlungs- und Unterstützungsangeboten und der regionalen Versorgungsstruktur besser machen.

Verbindlichere Koordination mit Hausärzten

Zur Verbesserung der Versorgungsstruktur und Zusammenarbeit gehört auch eine verbindlichere Kooperation mit den niedergelassenen Hausärzten in Niedersachsen. Wir wollen in Zusammenarbeit mit dem niedersächsischen Hausärzteverband bessere Unterstützungen für Hausärztinnen und Hausärzte durch die psychiatrischen Leistungserbringer entwickeln. Immerhin sind die Hausärzte oftmals die erste Anlaufstelle bei psychischen Krisen, und in einem Flächenland wie Niedersachsen bleiben sie häufig auch weiter Behandler für viele psychisch erkrankte Menschen.

Die Landesstelle Psychiatriekoordination wird sich in einer Lese-Reihe „Psychiatrie mal Anders“ widmen (Themen und Termine unter https://www.psychiatriekoordination-nds.de). Unter dem Stichwort „Lesungen im Dialog“ werden in fünf ZOOM-Video-Veranstaltungen verschiedene Autorinnen und Autoren ausgewählte Textpassagen ihrer Werke lesen und sie jeweils im Anschluss hinterfragen und reflektieren. Interessierten soll damit die Möglichkeit gegeben werden, sich dem facettenreichen Thema „Psychiatrie“ auf besondere Weise zu nähern. Dieses spannende Projekt richtet sich nicht nur an Profis, sondern will insbesondere Psychiatrieerfahrene und Angehörige sowie am Thema Interessierte einladen, einen ganz anderen Versuch zu wagen miteinander ins Gespräch zu kommen.

Es geht also weiter in Niedersachsen. In den Notizen werden wir die Leserinnen und Leser des EPPENDORFER weiter auf dem Laufenden halten. Wolfram Beins

(Wolfram Beins ist Vorstand des Landesfachbeirats Psychiatrie Niedersachsen – ein Fachgremium, das im Auftrag des Niedersächsischen Sozialministeriums die politischen Entscheidungsträger berät, sich aber auch als kompetenter Ansprechpartner in Sachen Psychiatrie im Lande versteht. In der Kolumne „Notizen aus Niedersachsen“ greift er seit vielen Jahren einzelne, aus seiner Sicht relevante Themen des Landes auf.)