Wie Autisten „ticken”

Der Autor Axel Brauns kommt mit seinem Autismus gut zurecht. Das ist nicht jedem gegeben ... Foto: Geißlinger

Autismus ist keine Krankheit, sondern eine in den Genen angelegte, unveränderliche Struktur. Wie das Hilfesystem Menschen mit dieser autistischen Struktur erkennt und welche Therapien wirksam sind, darum ging es bei einer Tagung in Neumünster.

NEUMÜNSTER. „Ich mag euch eigentlich nicht, aber ich komme trotzdem gern hierher, weil ich mich hier verstanden fühle.“ So fasste ein Teilnehmer zusammen, warum er regelmäßig zur Gruppen-Therapiesitzung für Menschen mit einer autistischen Störung geht. Trotz oft vorhandener Spezialbegabungen stehen im Alltag hohe Hürden im Weg., Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Leitender Oberarzt am dortigen Universitätsklinikum, zeigte die Videoaufzeichnung bei seinem Vortrag in der Holstenhalle in Neumünster, wo die „Zweiten Schleswig-Holsteinischen Fachtage Autismus“ mit rund 550 Gästen stattfanden.* Veranstalter waren die Arbeitsvermittlungs-Gesellschaft Salo & Partner und der schleswig-holsteinische Landesverband „Hilfe für das autistische Kind”.

Was genau ist eigentlich Autismus? Bei der Diagnose und Einstufung des Störungsbildes tut sich zurzeit einiges, berichtete Dr. Thomas Stehr von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg. Seit 2013 gilt ein neuer Leitfaden zur Klassifizierung, der DSM-5. Seither ist nicht mehr von typischem oder atypischem Autismus sowie dem Asperger-Syndrom die Rede, sondern von Autismus-Spektrum-Störungen oder Autism Spectrum Disorder (ASD). „Das entspricht einfach der klinischen Realität“, so Stehr. Der größte Unterschied: Früher wurde Autismus diagnostiziert, wenn zwei der typischen Merkmale auftraten. Dazu zählen soziale und kommunikative Störungen, stereotype, ständig wiederholte Verhaltensweisen wie Fingerschnippen und Marotten, also das stark ausgeprägte Interesse für ein Thema. „Jedes Kind, das irgendwie komisch war, passte in das Schema“, so Stehr. „Das ist so genau wie Würfeln.“ Denn Sprachstörungen haben viele, ebenso eine Marotte: „In jedem Modelleisenbahn-Verein treffen sich Leute mit hoch spezialisierten Interessen, die sind aber nicht alle Autisten.“ 

„Es gab zu viele falsch-positive Diagnosen.“

Eben da liege das Problem, so der Kinder-Facharzt: „Es gab zu viele falsch-positive Diagnosen.“ Die aber bedeuteten Leid für die Eltern und bringen den Kindern keinen Vorteil, schließlich würden sie als unheilbar eingestuft und eher zu wenig gefördert. Dabei wären sie behandelbar, etwa weil sie falsch als Autisten eingestuft werden, oder weil neben dem Autismus eine weitere psychische Störung auftritt, etwa eine Aufmerksamkeitsstörung wie ADHS. Nach der alten Klassifizierung schlossen sich ADHS und Autismus aus – aus Stehrs Sicht unsinnig und nach neueren Studien falsch. Denn inzwischen ist bekannt, dass eine autistische Störung in 70 bis 80 Prozent aller Fälle mit einer weiteren psychischen Störung zusammenfällt, zu 40 Prozent liegen sogar zwei weitere Störungen vor. 

Aber eben das macht es schwierig, den Autismus zu erkennen. „Er ist oft hinter den Komorbiditäten versteckt und bleibt lange unsichtbar“, sagte Ludger Tebartz van Elst. Er schilderte die Geschichte eines Mannes, der im mittleren Alter in die Sprechstunde kam. Schon als Kind habe er sich „anders“ gefühlt – typisch für Autismus, der bereits im frühesten Lebensalter vorhanden ist. Der strenge Vater schickte ihn zum Fußball, aber der Junge las lieber und lernte eigenständig mehrere Sprachen, seine „Marotte“. Als Jugendlicher entdeckte er, dass er schwul war, fand aber in dieser Szene ebenso wenig Anschluss wie in der Schulzeit oder an der Universität. Als Student entwickelte er eine Schizophrenie, später auch eine Depression. Diese Krankheiten lassen sich, anders als der Autismus, durchaus behandeln – mit Medikamenten, Gesprächstherapie oder Verhaltensänderungen, die Stress nehmen und damit das Selbstwertgefühl stärken.

„Autismus ist keine Krankheit und ist nicht heilbar“

Autismus selbst ist dagegen nicht heilbar: „Es handelt sich nicht um eine Krankheit, sondern ist eine Struktur, genau wie die Körpergröße“, sagte Tebartz van Elst. Zwar wird Autismus nach heutigem Forschungsstand genetisch verursacht, ist aber keine Erbkrankheit. Vermutlich spielen mehrere Hundert Genkombinationen eine Rolle, damit ein Mensch jene Autismus-Struktur entwickelt.

Die ist etwas ganz Besonderes, wie der Schriftsteller Axel Brauns erklärte: „Acht Milliarden Menschen auf der Welt machen es falsch, ich mache es richtig.“ Hochfunktionale Autisten wie Brauns, der Vorträge hält und Bücher über sein Leben schreibt, sind in der Lage, in der Welt der Nicht-Autisten nicht nur durchzukommen, sondern sehr erfolgreich zu sein. Es bedarf aber einiger Tricks und Anstrengung: „Menschen sind Gegenstände“, so Brauns. Er hat sich für stressige Situationen wie Vorträge ein Konzept zurechtgelegt: „Ich stelle mir vor, ich komme in einem Jahr wieder, und alles ist genau wie heute.“ Sprich: Auf einer abstrakten Ebene wird aus einer neuen Situation eine vertraute, aus einem einmaligen Ereignis eine Wiederholung, die damit keine Angst mehr macht. Wie Autisten ticken, beschrieb Axel Brauns in einer Anekdote über den Physiker Isaac Newton: Der habe einmal seinen Hörsaal leer vorgefunden, aber die Vorlesung trotzdem gehalten. „Die Gelegenheit war günstig, seinen Stoff ohne Störung vorzutragen.“ Er selbst würde es ebenso machen und aus demselben Grund wie Newton, sagte Brauns.

Trotz oft vorhandener Spezialbegabungen stehen im Alltag hohe Hürden im Weg

Aber längst nicht alle Menschen mit autistischer Struktur sind so begabt und befähigt, ihr Leben zu meistern. Trotz oft vorhandener Spezialbegabungen stehen im Alltag hohe Hürden im Weg. Diana Will, Leiterin der Ambulanz und Beratungsstelle des Landesverbandes „Hilfe für das autistische Kind“, der mehrere Zentren in Schleswig-Holstein betreibt, beschrieb in ihrem Vortrag den achtjährigen Florian. Der Junge ist Flughafen-Fan, spricht aber nicht und ist häufig aggressiv. In einem mehrwöchigen Training ging es darum, ihn so zu stabilisieren, dass er zur Belohnung einen Flughafen besuchen konnte. Dazu werden „Selbstberuhiger-Karten“ eingesetzt, in Florians Fall mit Flugzeugen darauf. Ein klarer Wochenplan mit Bildkärtchen zeigt an, was der Junge bereits erreicht hat – gute Nachtruhe, Mahlzeiten eingehalten. 

„Wir kommen dorthin, wo die Probleme sind, also nach Hause oder in die Schule“, sagt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Will. Da es so schwierig sei, Autisten früh zu entdecken, plädiert sie für multiprofessionelle Teams. Gerade Mädchen mit Autismus würden häufig lange übersehen: „Sie kompensieren in der Regel sehr gut.“ Viele Mädchen hätten eine „Ankerfreundin“, deren Verhalten sie kopieren. „Das wird in der Pubertät schwierig, wenn die Freundin neue Interessen oder einen Freund hat.“ Welche Leistung Menschen mit autistischer Struktur täglich vollbringen, zeigte Will mit einem chinesischen Schriftzeichen: So fremd wie die schwarzen Tuschestriche sind Gesichtszüge anderer Menschen. Um sie zu verstehen, müssen Autisten die Mimik auswendig lernen wie eine Fremdsprache.

Wer die Welt aus autistischer Sicht betrachten will, kann sich bei Axel Brauns melden. Er plant ein Künstlerdorf, in dem sich „Nicht-Autisten, also Betroffene, von uns inkludieren lassen können“. Gesucht werden besonders Eltern mit autistischen Kindern, die sich in dem Dorf ansiedeln wollen. Ebenfalls wären Sponsoren gut, die das Projekt unterstützten. Axel Brauns ist in dieser Hinsicht zuversichtlich: „Ich habe in meinem Leben schon viel mehr erreicht, als man mir zugetraut hat.“  

                       Esther Geißlinger 

(* Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 4/18)