Vom Misstrauen zum Wahn: In der Coronakrise haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur.
Es gibt Theorien der Leugnung („Nicht schlimmer als eine Grippe“), das Verschwörungskonglomerat der ökonomischen Bereicherungen (Pharmaindustrie) und der Kontrolle der Bevölkerung („Über Impfungen sollen Chips implantiert werden“). All das ist wiederum anschlussfähig an bisher bestehende abstruse Verschwörungstheorien. Warum führen Zukunftsängste und die Belastungen des Lockdowns dazu, dass Menschen lieber hanebüchenem Unsinn Glauben schenken als sich mit Erkenntnissen von Wissenschaft und Forschung auseinander zu setzen? Der Versuch einer Erklärung und eine beunruhigende Bestandsaufnahme.
Die Einschläge kommen näher
Verschwörungserzählungen sind seit Wochen ein Topthema in allen Medien. Als für diese Ausgabe von der Redaktion zu Beginn der Coronakrise ein Artikel zu Verschwörungstheorien geplant wurde, war das noch anders. Wir ahnten nicht, wie relevant das Thema im Verlauf der Pandemie werden sollte. Wenn wir trotz der zahlreichen Berichte in TV und Zeitungen trotzdem doch noch einmal darüber schreiben, dann auch aus einem Grund der Besorgnis: Die Einschläge kommen näher. Ich bin selbst Menschen begegnet, die mich von wirren Theorien überzeugen wollten, ich habe von Bekannten gehört, wie fanatisch sie von engen Freunden bedrängt wurden, endlich ihre Sicht der Dinge zu teilen.
Wären es einfach nur harmlose Spinnereien – ich gestehe, auch ich fand Erich von Dänikens Theorien über den Besuch Außerirdischer auf der Erde sehr unterhaltsam und amüsant – könnte man diese Menschen einfach ignorieren. Aber hier geht es vermehrt um Hetze gegen bestimmte Menschen (z.B. Bill und Melinda Gates) und ganze Bevölkerungsgruppen (sehr viele Verschwörungserzählungen, auch zu Corona, sind eindeutig antisemitisch konnotiert). Mit Lügengeschichten wird Hass erzeugt, der manch einen Wirrkopf auch zur Tat schreiten lassen wird. Zu welchen Verbrechen vergiftete Wahnbilder führen können, haben die Terrorattacken von Halle und Hanau gezeigt.
Suche nach Sündenböcken hat Tradition
Es würde wohl die Grenzen ganzer Bibliotheken sprengen, auf jede Verschwörungserzählung einzugehen, die im Internet kursiert und von denen viele schon Jahrhunderte alt sind. Zu allen Zeiten haben Menschen versucht, eine Erklärung für unerklärliche Ereignisse zu finden. Gab es Katastrophen für die Gemeinschaft, lag es auch im Interesse der Herrschenden, Sündenböcke zu finden.
Aber das im 21. Jahrhundert, wo Wissen überall leicht zugänglich ist, wo Fakten recherchiert werden können, immer mehr Menschen empfänglich für Verschwörungserzählungen sind, erscheint unbegreiflich. Eine Hunde-Nanny, der ich manchmal begegne, beklagte sich über einen Mann, der ihr mit „wissenschaftlichen Erkenntnissen“ hartnäckig darzulegen versuchte, dass die Erde flach sei. Sie war einem „Flat Earther“ über den Weg gelaufen, ich wiederum traf beim Gassigang mit meinen Hunden auf eine sehr nette Frau, mit der ich mich über die Notwendigkeit für besseren Umweltschutz schnell einig war. Doch dann zeigte sie auf einmal in den Himmel: „Diese Chemtrails sind doch schlimm, die machen alles kaputt.“ Ich verabschiedete mich schnell, hatte ich doch schon von dieser Theorie – Kondensstreifen von Flugzeugen seien in Wahrheit ausgebrachte Giftwolken, um das Klima zu beeinflussen oder die Menschheit zu dezimieren – gehört. Laut einer Untersuchung von Forschern der Universität Mainz aus dem Jahr 2016 glaubt jeder fünfte Deutsche an diese Theorie.
Bill Gates und die Chips
So weit, so harmlos. Dass immer mehr Menschen ihre radikale Ablehnung des Impfens mit Verschwörungstheorien begründen, ist aber ein anderes Kaliber. Eine Freundin meiner Schwägerin kam im Streit über die Gefährlichkeit des Coronavirus schnell auf das Hassobjekt vieler Impfgegner zu sprechen: Bill Gates wolle die gesamte Menschheit durchimpfen, ihr Chips einpflanzen, um sie auf diese Weise zu beherrschen. Grund: Er wolle sich bereichern. Warum einer der reichsten Menschen der Erde Milliarden Dollar in die Bestechung von Regierungen stecken sollte, damit diese ihre Volkswirtschaften nur aus dem Grund zerstören, um einen Vorwand für eine Impfkampagne ihrer Bevölkerung zu schaffen, die den alleinigen Zweck hat, Bill Gates noch reicher zu machen… Aber lassen wir das. Für diese Frau und für viele andere ist dies jedenfalls völlig plausibel, und mit Sendungsbewusstsein bombardiert sie Bekannte mit einschlägigen Videos oder Verlinkungen.
Erlebter Kontrollverlust als Ursache
Es stellt sich nun die Frage: Wie ist es zu erklären, dass Menschen Verschwörungstheorien – man denke da an Promis wie Eva Herman oder Xavier Naidoo – überhaupt anhängen. Ist es nur mit einer diffusen Angst zu erklären? Schlüssige Antworten darauf geben u.a. Katharina Nocun und die Psychologin Pia Lamberty in ihrem zu empfehlenden Buch „Fake Facts“, in dem sie nicht nur einen Überblick über die einzelnen Cluster der Verschwörungstheorien geben, sondern sich auch den psychologischen Grundlagen zuwenden.
Experten sind sich einig: Viele Menschen erleben persönliche Tiefschläge als Kontrollverlust. Der Glaube an Ver-schwörungserzählungen, oder an Esoterik, die anschlussfähig an Verschwörungserzählungen ist, gibt ihnen Rückhalt, sie liefern ihnen einfache Antworten.
Wenn ich mir einschlägige Videos ansehe, erscheint mir aber eine andere These noch bedeutender zu sein: Der Glaube an die große Verschwörung befriedigt das Bedürfnis, sich einzigartig zu fühlen. Wer das „System“, wie es Eva Herman zu nennen pflegt, verlassen hat und sich nur noch online im Biotop der Verschwörungsszene aufhält, kann bei entsprechender Disposition zur Ansicht kommen, zu den „Auserwählten“ zu gehören. Als „Schlafschafe“ werden von ihnen gerne Menschen verhöhnt, die die Verschwörungserzählungen einfach für Quatsch halten, sie seien einfach zu dumm, die üblen Machenschaften der Mächtigen zu erkennen. Sich einzugestehen, Nonsens aufgesessen zu sein, würde das eigene Selbstwertgefühl beschädigen.
Sektenhafte Szene
Die Verschwörungsszene ist sektenhaft, für Fakten, die nicht ins gefundene Weltbild passen, unzugänglich. Man glaubt, und je mehr man in diesen Glauben investiert hat, etwa indem man Brücken zu Freunden abgebrochen hat, und je stärker die stützende Community ist, desto unwahrscheinlicher ist eine Rückkehr ins „System“.
Viele Verschwörungsgläubige wollen auch dann weiterhin an ihrer Version der Realität festhalten, wenn alle Fakten dagegensprechen, schließlich begreifen sie den Glauben nicht selten als Kernaspekt ihrer Identität.
Katharina Nocun und Pia Lamberty in ihrem Buch “Fake Facts”
Als Beleg schildern Lamberty und Nocun einen Fall aus dem Jahr 1954 in den USA: Soziologen hatten Beobachter in eine Endzeitsekte geschleust, deren Anführerin verkündet hatte, es stünde eine Katastrophe bevor – ihre Anhänger würden aber gerettet und von einem Raumschiff abgeholt. Sie nannte sogar Tag und Uhrzeit. Und obwohl sie den Termin mehrmals nach hinten verschob und schließlich bekanntgab, Gott habe sie unterrichtet, dass der Weltuntergang nun doch nicht komme, blieb ein harter Kern der Anhänger an ihrer Seite. Er bejubelte ihre Erklärung, nur der Glaube ihrer Gruppe habe die Welt gerettet.
Verschwörungstheorien sind bequem
Endzeitszenarien bieten neben Unterhaltung auch die Möglichkeit, Alltagssorgen zu verdrängen. Was bedeuten schon Arbeitslosigkeit und Beziehungsstress, wenn man weiß, dass dunkle Mächte am 3. Weltkrieg arbeiten. Was soll man sich da noch quälen? „Glaube kann eine entlastende Funktion haben“, so Lamberty und Nocun. „Und Verschwörungstheorien bieten ein allumfassendes Erklärungsmuster für ihre Anhänger, das Orientierung und Halt verspricht.“
Man glaube, die Welt zu durchschauen und so auch mehr Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Ist es nicht angenehm, die Schuld an eigenen Schicksalsschlägen einer klar benennbaren, kleinen Gruppe von Verschwörern zuschreiben zu können? Und bequem, den Klimawandel einfach zu bestreiten, weil man dann nicht seinen Lebensstil ändern müsste? Leider sind Verschwörungstheorien aber auch Radikalisierungsbeschleuniger, die Gewalt legitimieren.
Entfremdung von der Politik
Wo ist nun der Unterschied zum Psychotischen? Paranoide Menschen haben Angst vor der Verschwörung gegen die eigene Person, Verschwörungsideologen haben einige wenige mächtige Menschen ausgemacht, die hinter allem Bösen auf der Welt stecken. Menschen, die sich sowieso von der Politik entfremdet fühlen, haben ein erhöhtes Risiko, einen Hang zu Verschwörungstheorien zu entwickeln.
Dies lässt sich bei der AfD beobachten, wo Klimawandelleugner, Impfgegner und Umvolkungs-Apologeten eine Heimat gefunden haben. Donald Trump, der vorgab, gegen das Establishment anzutreten, kennt diese Zusammenhänge genau: Skrupellos füttert er seine Anhängerschaft mit Verschwörungstheorien. Dabei belässt er es gern bei Andeutungen und Spekulationen, er streut Gerüchte ohne Faktenbasis, er lügt, um Feindbilder zu schaffen. Von seinen Fans wird dies dankbar aufgesogen. In den sozialen Echokammern der Online-Plattformen wie Facebook, Twitter oder Instagram werden die Gruppenmitglieder in ihren Ängsten bestärkt, sie radikalisieren sich in ihren geschlossenen Gruppen immer weiter.
Gefüttert mit Fake-News, nehmen alptraumhafte Visionen Gestalt an, führen zu Wut und Hass. Und im schlimmsten Fall zu Terror in der realen Welt. Wer glaubt, dass die Welt von Verschwörern gelenkt wird, die an Genoziden arbeiten, wird vor Gewalt nicht zurückschrecken, „um sich zur Wehr zu setzen“.
Was kann man nun dieser Entwicklung entgegensetzen? In einem Tagesspiegel-Interview wandte sich der DGPPN-Vorsitzende Prof. Andreas Heinz dagegen, die Neigung von Menschen zu psychiatrisieren, die sich in Krisen einfachen Erklärungsmodellen anschließen.
Ich glaube, die Fähigkeit, entgegen anderslautenden Belegen eigentümliche Hypothesen zu übernehmen und zu vertreten, ist leider eine menschliche Grundfähigkeit. Es bringt nichts, Rassismus oder andere Ideologien psychiatrisch zu pathologisieren. Da sind teils auch Menschen mit psychischen Erkrankungen dabei. Aber was sie in ihre Gedankengebäude einbauen, kommt wiederum aus ihrer Umwelt. Psychische Erkrankungen sollte man nicht daran festmachen, dass jemand hartnäckig eine Überzeugung vertritt, die ein großer Teil der Welt nicht teilt.
Prof. Andreas Heinz, Vorsitzender der DGPPN
Also was tun? Er würde, so sagte er es bei einer Internetdiskussion, versuchen, solange wie möglich mit dem Menschen zu reden, an Realitätspunkte anknüpfen. „Aber manchmal muss man eben auch abbrechen.“
Der Gesellschaft und Politik bleibt offenbar nur, eine offene Debatte zu führen, die Maßnahmen des Lockdowns aufzuarbeiten und transparent darzustellen. Ob das reicht? Menschen, die ein großes Grundmisstrauen gegen die politischen Vertreter und „die da oben“ entwickelt haben und in die Verschwörungsszene abgerutscht sind, wieder einzufangen, wird wohl kaum möglich sein. Um so wichtiger ist es, die Querfront der Verschwörungsideologen mit menschenfeindlichen Narrativen auf dem Schirm zu behalten – und wenn nötig auch strafrechtlich zu belangen.
Michael Freitag
Aus: Eppendorfer 3/2020
Was Schizophrenie und Glauben an Verschwörungstheorien gemeinsam haben, lesen Sie hier