Vergast in Hadamar: Drei Frauen

Hochzeitsfoto von Therese und Heinrich Schubert (Lüneburg, 21.9.1920). Foto: Archiv

“Resi”, wie Therese Schubert, geborene Keck, genannt wurde, hatte wohl den Tod ihres Mannes nicht verkraftet, den sie 1929 geheiratet hatte. Sie war 39 Jahre alt, die beiden Söhne gerade drei und vier, als die Leiche von Heinrich Schubert aus dem Wasser der Ilmenau gezogen wurde. Wie der angesehene Zimmerer, Bauingenieur und Stadtbauführer zu Tode kam, blieb ungeklärt. Offenbar hatte die Polizei – erfolglos – wegen Mordes ermittelt, da ein Racheakt vermutet worden war. Von den Nazis im Rahmen der so genannten T-4-Aktion ermordet wurde viele Jahre später seine nach seinem Tod psychisch erkrankte Frau, an die eine Sonderausstellung jetzt auch digital erinnert.

Historische Unterlagen ausgewertet

200 Frauen wurden im April 1941 von der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt und dort im Rahmen der sogenannten “Aktion T4” vergast. “Frauen trugen offenbar ein größeres Risiko als Männer, zu Opfern der ,Aktion T4’ zu werden. Ihre Überlebenschance war geringer”, sagt Dr. Carola Rudnick, wissenschaftliche und pädagogische Leiterin der Gedenkstätte, die gemeinsam mit 53 Pflegeschülerinnen und Pflegeschülern der Krankenpflegeschule der Psychiatrischen Klinik und der Schule für Pflegeberufe des Klinikums Lüneburg historische Unterlagen ausgewertet hat.

Viele der Frauen waren schwangerschafts- und geburtsbedingt erkrankt, ihre Ermordung wirkte sich häufig auch auf das Leben ihrer zurückgebliebenen Kinder verheerend aus.

Dr. Carola Rudnick

Lebensgeschichten dieser Frauen stehen im Mittelpunkt der Sonderausstellung “Still, stumpf, beschäftigt mit Kartoffelschalen, verlegt. Frau als Opfer der T4“, die im Rahmen einer berührenden Gedenkfeier mit rund 200 Gästen, etwa ein Viertel davon Angehörige, eröffnet wurde.
Zu den überraschenden Ergebnissen zählt die Erkenntnis, dass die Frauen aus dem gesamten norddeutschen Raum stammten, etwa die Hälfte der Frauen kam aus den heutigen Städten Bremen, Bremerhaven, Celle, Cuxhaven, Hamburg, Hannover, Stade und Winsen/Luhe. 13 Frauen waren Lüneburgerinnen. Eine davon: Therese Schubert, deren Enkelin Ulrike H., 56, ebenfalls bei der Ausstellungseröffnung dabei war.

Für mich war es wirklich ein Segen, wie Licht in die alte, finstere Familiengeschichte kam, die immer nur mühsam ertragen wurde.

Ulrike H., Enkelin von Therese Schubert

Eine erste Anfrage der Familie beim Staatsarchiv Hannover vor rund zehn Jahren verlief erfolglos, weil es keine Akte gab. Erst das Projekt der „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg und die Forschungen von Carola Rudnick gemeinsam mit den Nachfahren und mit der Pflegeschüler-Gruppe konnten die alten Fragen beantworten.

Hochzeitsfoto von Therese und Heinrich Schubert (Lüneburg, 21.9.1920). Foto: Archiv


In den Wochen und Monaten nach dem Tod von Heinrich – in der Patientenakte von Therese findet sich dazu der Eintrag: „Ihr [Thereses] Ehemann ist 1925 an Freitod durch Ertrinken verstorben“ – sei Resi „komisch“ geworden, habe Stimmen gehört, sei zusammengebrochen, berichtet die Schwester Christine Keck – bei der später „Resis“ Söhne aufwachsen – den Ärzten später, bis zur Psychiatrieeinweisung vergehen aber noch sechs Jahre. 1932, bei Aufnahme in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, wird „Jugendirresein“ mit „Halluzinationen, Sensationen und Verfolgungswahn“ diagnostiziert. Sie bedürfe, „da sie für ihre Umgebung sehr lästig fällt, der Verwahrung in einer geschlossenen Anstalt“, heißt es in den alten Unterlagen. Später ist von Schizophrenie die Rede. Ihr Todesurteil.

„Resi“ gehörte zu den ersten 130 Patienten, die am 9.4.1941 von Lüneburg in die Durchgangsanstalt Herborn verlegt wurden. Vermutlich starb sie Ende April 1941, angeblich an einer Lungenentzündung, wie der Familie mitgeteilt wurde. Tatsächlich wurde sie Opfer der „Aktion T4“ und in der Tötungsanstalt Hadamar vergast, wie die Historikerin Carola Rudnick recherchierte.

Ida Zettel und ihr langer Weg in die Tötungsanstalt Hadamar

Ida Zettel, Tochter eines Hotelbesitzers im damals noch nicht zu Hamburg gehörenden Harburg, wurde 1911 im Alter von 26 Jahren das erste Mal in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Es war der Beginn eines Leidenswegs, der sie schließlich 1941 in die Gaskammer von Hadamar führte.

Ida Zettel im Jahr 1904. Foto: Privatbesitz Michael Meyberg

Nach Auskunft der Akte sei Ida Zettel bereits zuvor einige Jahre nervös gewesen, heißt es anlässlich ihrer ersten Einweisung. Ende Juni sei sie dann wohl auch aufgrund einer „vergeblichen Hoffnung auf einen Herren im Bekanntenkreise“ der Familie sehr unglücklich geworden und habe kaum noch geschlafen. Aus Sorge brachte man sie am 15. Juli 1911 in das Harburger Krankenhaus, in dem sie in der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 1911 plante, sich durch einen Fenstersprung das Leben zu nehmen. Schließlich endete ihr Selbstmordversuch in einem Tobsuchtsanfall. Der Kreisarzt diagnostizierte eine Hysterie.

Diagnose Schizophrenie

Erst am 29. Dezember 1916 wurde Ida wieder nach Hause entlassen, wohl zu ihrem Vater Wilhelm, der das Harburger Bahnhofshotel führte. Inmitten der November-Revolution wurde Ida ein zweites Mal in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg eingewiesen. Wirtschaftlich ging es der Familie so gut, dass die Aufnahme weiterhin auf eigene Kosten erfolgte. Als Aufnahmegrund ist notiert, dass sie in den Jahren nach ihrer Entlassung ständiger Aufsicht bedurfte und sich wieder eine große Unruhe eingestellt hatte. Von da an bekam sie die Diagnose Hebephrenie (Schizophrenie). Vermutlich in Zusammenhang mit dem Tod des Vaters wurde Ida am 15. Juni 1920 in die Privatklinik Dr. Fontheim nach Liebenburg verlegt.

Das Bahnhofshotel in Harburg: 1932 wurde der Hotelbetrieb eingestellt, nur das Restaurant wurde fortgeführt. Frei werdende Räume wurden an die Gauleitung der NSDAP Ost-Hannover vermietet, die von 1934 bis 1937 dort ihren Hauptsitz hatte und im Sommer 1937 in die Schießgrabenstraße nach Lüneburg umzog. Schließlich gaben „Zettels Erben“ im Oktober 1937 auch den Restaurantbetrieb auf. Die Hamburger Baubehörde zog in das ehemalige Hotel ein. Foto: Privatbesitz Michael Meyberg

Den Erben gelang es in den Folgejahren nicht, das Bahnhofshotel wirtschaftlich erfolgreich zu führen. Schließlich musste die Familie den Hotelbetrieb ganz aufgeben, neue Inhaber folgten. Das Gebäude blieb aber in ihrem Besitz. Während das Hotel wirtschaftlich zu kämpfen hatte bzw. ganz verloren ging, wurde Ida aus Liebenburg wieder nach Lüneburg verlegt. Am 28. September 1921 kehrte sie in die Heil- und Pflegeanstalt zurück. Ihre Schwester Toni übernahm die Pflegekosten, was ihr durch die Beteiligung am Hotel zunächst wohl auch problemlos möglich war.

Nach der letzten Einweisung wurde Ida bis zu ihrer „planwirtschaftlichen Verlegung“ im Rahmen der „Aktion T4“ nicht mehr entlassen. Nach 20 Jahren kontinuierlicher Anstaltsunterbringung wurde sie am 30. April 1941 zusammen mit 96 weiteren Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in die Zwischenanstalt Herborn verlegt. Von dort wurde sie am 16. Juni 1941 in die Tötungsanstalt Hadamar weiterverlegt, wo sie mit hoher Wahrscheinlichkeit noch am Tag ihrer Ankunft in einer Gaskammer ermordet wurde.

Nach Fluchtversuch in die Einsamkeit: Elsa Spartz hörte Stimmen – ihr Todesurteil

Wenige Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Felicitas erkrankte Elsa Spartz. Diagnostiziert wurden bei ihr Stimmenhören, innere Unruhe und Halluzinationen. Am 12. Mai 1928 wurde die Mutter zweier Kinder in Dr. Walter Benning’s Sanatorium Rockwinkel bei Bremen aufgenommen, Elsa Spartz war zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt.

Ein Fluchtversuch

Vier Jahre verbrachte sie im Sanatorium, der Aufenthalt war wohl von Ängsten begleitet. Sie dachte beispielsweise, jemand wolle ihre beiden Kinder töten. Eine Rückkehr ins Harburger Zuhause noch 1928 scheiterte bereits nach drei Tagen: Da sie weiterhin Stimmen hörte und „sich gar nicht in den Rahmen der häuslichen Pflichten hat fügen können“, aber auch, weil sie auf der Straße herumgelaufen sei, ihre Kinder und ihren Mann beschimpft haben soll. Letzterer war immerhin als Chirurg Chefarzt am katholischen Krankenhaus Mariahilf. Chefarzt und eine an Schizophrenie erkrankte Frau – das musste für Heinrich Spartz sicherlich ein großes Problem gewesen sein. Im September 1930 entwich Elsa bei einem Spaziergang und schaffte es, nach Hause zu ihrem Mann zu fahren. Dieser ließ sie per Taxi sofort wieder zurückbringen.

Auf diesem Gruppenbild stehen Elsa und ihr Mann Heinrich im Zentrum. Sie sind umringt u. a. von ihren Angehörigen der Familien Spartz, Mehling und Schmalen. Das Bild wurde etwa 1911 aufgenommen. Es ist das einzige Foto von Elsa Spartz, das in der Familie erhalten ist. Privatbesitz Maria Kiemen/Matthias Spartz

1931 und 1932 folgten nur wenige Einträge durch die behandelnden Ärzte. Es wurde dokumentiert, dass sie sich dem Personal gegenüber ablehnend verhielt. An einer Stelle wurde sie als „autistisch“ und „furienhaft“ beschrieben. Wohl bereits eine Verlegung in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg erwägend, resümierte der behandelnde Arzt am 1. Dezember 1933: „Hielt sich die ganzen Monate über alleine in ihrem Zimmer auf und war zu keiner, auch nicht der geringsten Beschäftigung zu bringen; es lässt sich auch unter Anwendung aller Mühen mit der Patientin kein gedanklicher Konnex finden. Versucht man, mit leisem Zwang sie zu irgend einer Handlung zu veranlassen, schlägt sie wild um sich, beisst, kratzt und spuckt.“

Neun Monate später, am 29. August 1934, wurde sie aus Benning’s Sanatorium Rockwinkel nach Lüneburg verlegt. Zu diesem Zeitpunkt waren ihre Kinder 12 und 14 Jahre alt. Da keinerlei weitere Besuche in der Krankenakte von Elsa vermerkt sind, ist davon auszugehen, dass ihre Kinder sie bereits ab 1928 nicht mehr sahen und der persönliche Kontakt zu ihrem Mann, vermutlich ab 1930, mit dem gescheiterten Fluchtversuch endete.

Der Ehemann rettete sie nicht

Aus ihrer siebenjährigen Zeit in Lüneburg sind keine Aufzeichnungen erhalten. Am 30. April 1941 wurde Elsa zusammen mit 96 weiteren Frauen in die Heil- und Pflegeanstalt Herborn verlegt. Ihr Mann, seit 1937 NSDAP-Mitglied und wohl als Chefarzt über die „Euthanasie“ im Bilde, unternahm nichts zu ihrer Rettung. Am 16. Juni 1941 wurde sie in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt und am Tag ihrer Ankunft vergast. Auch ihr Mann überlebte den Krieg nicht: Er kam bei einem Bombenangriff auf das Mariahilf-Krankenhaus 1944 ums Leben.

Die Sonderausstellung „Still, stumpf, beschäftigt mit Kartoffelschälen, verlegt. Frauen als Opfer der T4“ in der „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg (Am Wienebütteler Weg 1, 21339 Lüneburg) kann ab jetzt auch virtuell besucht werden.