Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell hält nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Bezahlung von 24-Stunden-Betreuungskräften weitere Klagen osteuropäischer Frauen für möglich. Betroffene Familien könnten vermehrt auch rückwirkend mit erheblichen Nachforderungen konfrontiert werden, sagte er in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Alle Risiken mit der faktisch illegalen Beschäftigung werden vollständig auf die Familien verlagert.“ Grundsätzlich werde sich mangels Alternative aber zunächst wenig daran ändern, dass Osteuropäerinnen sich in Deutschland zu rechtswidrigen Bedingungen um pflegebedürftige Menschen kümmern.
Für eine Betreuung in der eigenen Wohnung im Einklang mit dem deutschen Arbeits- und Sozialrecht müssten Pflegebedürftige und ihre Familien mindestens drei Hilfskräfte und monatliche Kosten von 10.000 bis 12.000 Euro einplanen, sagte Sell. Bei der häuslichen Intensivpflege würden aktuell sogar bis zu 20.000 Euro monatlich mit den Kassen abgerechnet. Da solche Summen von praktisch niemandem aufgebracht werden könnten, stünden Betroffene und Politiker nun vor einem „unlösbaren Dilemma“, sagte Sell, der an der Hochschule Koblenz die Professur für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften innehat.
Monatliche Kosten von 10.000 bis 20.000 Euro
Eine Lösung des Problems biete den Betroffenen vor der Bundestagswahl im September keine Partei: „Ich habe noch kein Modell in den Wahlprogrammen gesehen, das uns Hoffnung gibt.“ Das mittlerweile auch von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ins Gespräch gebrachte Modell aus Österreich, wo die häusliche Rund-um-die-Uhr-Betreuung als selbstständiger Beruf legalisiert wurde, sei ebenfalls kein wirklicher Ausweg. An dem Ausbeutungscharakter würde sich dadurch wenig ändern. Allenfalls einzelne Aspekte des problematischen Einsatzes von Osteuropäerinnen könnten dadurch entschärft werden – etwa, wenn es zu einer Begleitung der Betreuungskräfte durch ambulante Pflegedienste komme.
Grundsätzlich müsse allen klar sein, dass die häusliche Pflege mit 24-Stunden-Betreuungskräften aus Osteuropa womöglich in den kommenden Jahren nicht mehr praktikabel bleibe. Schon heute sei es kaum noch möglich, polnische Frauen für diese Arbeit zu gewinnen, da das Wohlstandsgefälle zwischen Polen und der Bundesrepublik kleiner geworden sei: „Deswegen muss man immer weiter ostwärts gehen.“
Grundsatzurteil aus Erfurt
Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hatte in einem am 24. Juni verkündeten Grundsatzurteil entschieden, dass der Mindestlohnanspruch auch für Pflegekräfte besteht, die 24 Stunden am Tag sieben Tage in der Woche Menschen in deren Privatwohnungen pflegen. Konkret ging es um den Fall einer bulgarischen Pflege- und Haushaltskraft, die von einem bulgarischen Arbeitgeber nach Deutschland vermittelt worden war und nach ihren Angaben monatelang rund um die Uhr eine über 90-jährige Frau betreut hatte.
epd-Gespräch: Karsten Packeiser