Der Hamburger Rechtsanwalt Oliver Tolmein hat eine schnelle und umfassende Beteiligung behinderter Menschen an einer Gesetzgebung für eine sogenannte Triage gefordert. „Diversität wäre der sicherste Schutz vor Diskriminierung“, sagte Tolmein am Montag bei einer Online-Diskussion des Bremer Landesbehindertenbeauftragten Arne Frankenstein. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte im Dezember entschieden, Menschen mit Behinderung müssten besonders geschützt werden, wenn es bei einer Knappheit an Betten und Personal auf Intensivstationen zu einer Auswahl von Patienten komme (AZ: 1 BvR 1541/20).
Die Verfassungsrichter hatten den Gesetzgeber beauftragt, „unverzüglich“ Vorkehrungen zu treffen, damit behinderte Menschen dabei nicht benachteiligt würden. Nancy Poser, eine der Beschwerdeführerinnen, sagte während der Online-Debatte vor etwa 350 Teilnehmenden aus vielen Teilen Deutschlands, die Politik dürfe sich nicht in erster Linie an die Ärzteschaft wenden. Es gehe in diesem Zusammenhang vor allem um juristische, ethische und soziale Fragen.
Auch Vertreter aus Politik und Verbänden unterstützten die Forderung nach einer intensiven Beteiligung von Menschen mit Behinderungen. Von mehreren Seiten kam die Kritik, dass im Gesetzgebungsprozess noch nicht viel passiert sei. „Ich verstehe nicht, warum die Telefonleitungen nicht heiß laufen“, bemängelte beispielsweise Tolmein. Die Gesetzgebung müsse angesichts steigender Inzidenzen vorrangig angeschoben werden.
Das Verfassungsgericht stellte in seiner Grundsatzentscheidung klar, dass der Staat „wirksame Vorkehrungen“ treffen müsse, damit eine Diskriminierung behinderter Menschen bei der Verteilung „pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen“ verhindert wird. Der Gesetzgeber habe solche Vorkehrungen bislang nicht getroffen.
Anlass des Rechtsstreits waren die zu Beginn der Corona-Pandemie im April 2020 veröffentlichten „klinisch-ethischen Empfehlungen“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Der Zusammenschluss medizinischer Fachgesellschaften will mit seinen Leitlinien Ärzten Hilfestellung geben, nach welchen Kriterien sie Patienten für eine intensivmedizinische Behandlung bei zu wenig Klinikbetten auswählen können. Neun Beschwerdeführer mit einer Behinderung rügten vor Gericht, dass die Divi-Empfehlungen sie diskriminierten.
epd
(Ein aktuelles Eckpunktepapier des Forums behinderter Juristinnen und Juristen vom 17.Januar 2022 ist abrufbar auf www.fbjj.de.)
Am 3. Januar berichteten wir:
Triage-Urteil: Beratende Gremien gefordert
In der Pandemie könnten Intensivstationen an ihre Grenzen stoßen. Dann kommt es zur Triage, Patienten werden nach Aussicht auf Erfolg ausgewählt. Menschen mit Behinderung müssten dann besonders geschützt werden, entschied das Verfassungsgericht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe fordert, „dass Gremien zur Sicherstellung rechtlicher und ethischer Expertise eingebunden werden.“
Menschen mit Behinderung müssen bei einer Knappheit an Betten und Personal auf Intensivstationen besonders geschützt werden. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat den Gesetzgeber beauftragt, „unverzüglich“ Vorkehrungen für eine sogenannte Triage zu treffen, damit sie bei einer Auswahl von Patienten nicht benachteiligt werden (AZ: 1 BvR 1541/20). Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach von einer „Handlungspflicht“ und kündigte an, „zügig“ einen Gesetzentwurf vorzulegen.
„Der Gesetzgeber darf es nicht mehr den medizinischen Fachgesellschaften überlassen, Leitlinien für den Fall einer Triage aufzustellen“, erklärte der Minister. Nun würden „die verschiedenen gesetzgeberischen Optionen schnell und sorgfältig“ analysiert und zügig dem Bundestag ein Gesetzentwurf vorgelegt. Dabei seien rein prozedurale Regelungen ebenso denkbar wie konkrete substanzielle Vorgaben.
Ziel: Triage-Situationen verhindern
Zugleich werde sich die Regierung weiterhin als erstes Ziel darum bemühen, dass es gar nicht erst zu einer Triage-Situation komme, versicherte er. „Eine deutschlandweite Überlastung der intensiv-medizinischen Behandlungskapazitäten konnte bislang vermieden werden; diesem Ziel gelten auch weiterhin all unsere Anstrengungen.“
Das Verfassungsgericht stellte in seiner Grundsatzentscheidung klar, dass der Staat „wirksame Vorkehrungen“ treffen müsse, damit eine Diskriminierung behinderter Menschen bei der Verteilung „pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen“ verhindert wird. Der Gesetzgeber habe solche Vorkehrungen bislang nicht getroffen.
Anlass des Rechtsstreits waren die zu Beginn der Corona-Pandemie im April 2020 veröffentlichten „klinisch-ethischen Empfehlungen“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Der Zusammenschluss medizinischer Fachgesellschaften will mit seinen Leitlinien Ärzten Hilfestellung geben, nach welchen Kriterien sie Patienten für eine intensivmedizinische Behandlung bei zu wenig Klinikbetten auswählen können. Neun Beschwerdeführer mit einer Behinderung rügten vor Gericht, dass die Divi-Empfehlungen sie diskriminierten.
Caritasverband: „Eine große Beruhigung”
Für den Deutschen Caritasverband ist die Entscheidung des Gerichts „eine große Beruhigung“. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sagte, der Gesetzgeber müsse nun schnell handeln. Dem Bundesverband evangelische Behindertenhilfe ist „die Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts wichtig, dass bei allen Menschen allein auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit abgestellt werden darf“.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte die Entscheidung ebenfalls. „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat.“ Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, sagte dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“, dass Menschen mit Behinderungen und deren Selbstvertretungsorganisationen als Expertinnen in eigener Sache am Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden sollten.
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat der Gesetzgeber einen „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“, wie er behinderte und chronisch kranke Menschen im Fall einer Triage schützt. Es müsse sichergestellt sein, „dass nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“, betonten die Verfassungsrichter. Dabei habe der Gesetzgeber zu berücksichtigen, dass das ärztliche Personal für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im jeweiligen Einzelfall die letzte Verantwortung trägt.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe begrüßte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Es reiche aber nicht aus, nun einfach Orientierungshilfen von medizinischen Fachgesellschaften in ein Triage-Gesetz zu überführen, erklärte Bundesgeschäftsführer Martin Danner: „Wir brauchen klare Regelungen, dass Ärztinnen und Ärzte nicht alleine über Leben und Tod entscheiden, sondern dass Gremien zur Sicherstellung rechtlicher und ethischer Expertise eingebunden werden.“ Menschliches Leben mit und ohne Behinderung sei gleich viel wert.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen ist die Vereinigung der Selbsthilfeverbände behinderter und chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen in Deutschland.
epd