Malen im
Banne der Angst

In dem Bild „Das kranke Kind" verarbeitete Munch die Tuberkuloseerkrankung und den Tod seiner älteren Schwester Sophie (1862–77).

Der norwegische Künstler Edvard Munch (1863-1944) schrieb einmal: “Solange ich mich erinnern kann, habe ich unter einem tiefen Gefühl der Angst gelitten.” Dieses tiefe Gefühl der Angst, die in der psychiatrischen Nosologie als generalisierte Angststörung bezeichnet wird, fand in der Kunst von Munch am eindrucksvollsten in dem Bild „Der Schrei”,(1895), das eine Panikattacke verbildlicht, ihren besonderen Niederschlag, Munch selbst äußerte sich in seinem Tagebuch dazu: „Ich ging mit zwei Freunden die Straße hinab. Die Sonne ging unter – der Himmel wurde blutrot, und ich empfand einen Hauch von Wehmut. Ich stand still, todmüde – über dem blauschwarzen Fjord und der Stadt lagen Blut und Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter – ich blieb zurück – zitternd vor Angst – ich fühlte den unendlichen Schrei in der Natur“

  Die Angst von Munch bezog sich hauptsächlich auf Krankheiten, sowohl körperlich als auch seelisch und auf den Tod. Höchst wahrscheinlich bedingt durch traumatische Erlebnisse in seiner Kindheit und Jugend, die durch Krankheit und Tod in der Familie überschattet waren. Als er fünf Jahre alt war, starb seine Mutter im Alter von 33 an Schwindsucht (Tuberkulose), neun Jahre danach erlag seine ältere Schwester Sophie mit 15 Jahren derselben Krankheit. Als Munch selbst 13 Jahre alt war, erlitt er einen Blutsturz, den er, nicht ohne Grund, als Schwindsucht-Symptom deutete. Dieses Erlebnis war so schwerwiegend, dass er befürchtete, er könnte daran sterben. Er schrieb dazu: “Dieser Keim der Schwindsucht hat seine blutrote Fahne siegreich auf mein Taschentuch gelegt.“ 

Tuberkulose forderte Millionen Todesopfer

  Zu jener Zeit grassierte Tuberkulose wegen der mangelnden Hygienestandards in Europa und forderte Millionen Todesopfer. Munch glaubte an die erbliche Übertragung der Krankheit. Dazu schrieb er: „Ich habe zwei der furchtbarsten Feinde der Menschheit geerbt – das Erbe der Schwindsucht und von meinem Vater habe ich die Saat des Wahnsinns geerbt. ” In der Tat war der Wahnsinn in seiner Familie allgegenwärtig.  Seine jüngere Schwester Laura, kam im jugendlichen Alter wegen einer psychotischer Störung in eine Nervenheilanstalt und starb dort elendig mit 30 Jahren. Munchs Vater, ein Militärarzt, der später Armenarzt wurde, stürzte nach dem Tod seiner Frau in tiefste Verzweiflung, flüchtete sich in eine strenge Religiosität und verfiel in Depressionen. Und Munch fürchtete, bald ebenfalls geisteskrank zu werden.

Er war schon als Kind von hochsensibler Natur und schleppte diese traumatischen Ereignisse lebenslang mit sich herum. Sie wurden wichtigste Bildthemen und Motive seiner Kunst, zu sehen in den Bildern „Das kranke Kind” (1885/86), “Der Tod im Krankenzimmer” (1893), “Am Totenbett” (1895), “Sterbezimmer” (1896), “Tote Mutter und Kind” (1901), “Totenbett” (1915) und “Todeskampf” (1915). 1920 schrieb Munch: „In meinem Elternhaus hausten Krankheit und Tod. Ich habe wohl nie das Unglück von dort überwunden. Es ist auch für meine Kunst bestimmend gewesen.“ Das Motiv im Bild „Das kranke Kind”, welches seine Schwester Sofie und Ihre Tante Karen darstellt, griff er wie besessen wiederholt auf. So entstanden sechs Gemälde in abgewandelten Variationen und eine Vielzahl von Grafiken. Dieses Bild gehört zu seinen bewegendsten Werken und hat eine Schlüsselstellung in seinem Gesamtwerk.

Syphilis: Männer steckten oft ihre ahnungslosen Ehefrauen an

  Eine weitere Geißel zu Munchs Zeiten war die Syphilis. Jeder zehnte Mann war, meist durch Kontakte mit infizierten Prostituierten, syphiliskrank. Oft steckten sie ihre ahnungslosen Ehefrauen oder Partnerinnen an. Diese wiederum infizierten ihre Kinder durch Übertragung der Krankheit während der Schwangerschaft auf das Ungeborene (kongenitale Syphilis). Man glaubte dennoch, dass die Krankheit bis ins dritte Glied vererbt werde, auch Munch war davon überzeugt. 

Er war seit seiner Zugehörigkeit zu der Boheme von Christiania (Oslo) ein Befürworter der antibürgerlichen Lebensführung und der freien Liebe als Ausdruck der Freiheit, was zu oft wechselnden Damenbekanntschaften führte. Deshalb sah er die Syphilis als eine Bedrohung und hatte Angst vor Ansteckung.  Als er Mitte der 1890 er Jahre, in Begleitung des befreundeten Arztes Marcel Reja das Krhs. Saint Louis in Paris besuchte, sah er eine Sammlung von Moulagen, Wachsmodellen von Krankheiten, darunter auch die eines Säuglings mit angeborener Syphilis. Darüber hinaus sah er eine weinende Frau in einer schwarzen Jacke und schwarzem Hut mit rotem Federschmuck, im Warteraum sitzend. Auf ihrem Schoss lag ein nacktes, schwer krankes Kind mit riesigem Kopf und rötlichem Hautausschlag an mehreren Stellen, das offensichtlich an Syphilis leidet. Inspiriert durch dieses Erlebnis malte Munch ein Bild.

Munch glaubte an die erbliche Übertragung

Da er an die erbliche Übertragung der Krankheit glaubte, gab er ihm den Titel „Inheritance (das Erbe)”,1896/97. Als er später in der Ausstellung der Indépendants teilnahm, lieferte er ein einziges Bild: Inheritance. In einem Brief an seinen Mäzen Dr. Max Linde in Lübeck schrieb er stolz: „Meine Syphiliskunst wurde in ein Chambre particulier aufgehängt und erreichte eine groszartige Succès de rir (Lacherfolg)- Es war in dem Zimmer immer voll von Menschen, welche geschrien und gelacht haben.“ Ob es sich tatsächlich so zugetragen hat, wissen wir nicht. Fakt ist: Das grauenvolle Bild löste in der Öffentlichkeit und in der Kritik große Empörung aus. Munch wurde vorgeworfen, vorsätzlich ein Tabu gebrochen zu haben. Schlimmer noch: Man empfand im Bild eine groteske Verhöhnung des christlichen Ursymbols Madonna mit dem Kind.

  Munch bannte seine nicht sichtbaren, nicht greifbaren Ängste, mit denen er lebenslang gerungen hatte auf Leinwand und machte sie in bedrängenden Bildern sichtbar. Damit versuchte er seine Dämonen zu besiegen. Das ist dem Menschen Munch nicht ganz, aber dem Künstler Munch hervorragend gelungen, wie seine Werke beweisen.    Turhan Demirel