Warum finden manche Menschen im gemeindepsychiatrischen Versorgungssystem einfach keinen Platz? Professor Dr. Marc Ziegenbein stellte sich diese Frage bereits, als er früher in der Abteilung für Sozialpsychiatrie der Medizinischen Hochschule Hannover tätig war. „Ich habe das Versorgungssystem in der Region Hannover aus unterschiedlichen Perspektiven gesehen“, sagt er im Interview mit dem EPPENDORFER. Auf der Jahrestagung des Arbeitskreises der Chefärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland (ackpa) unter dem Titel „Die ungeliebten Kinder der Gemeindepsychiatrie – über Ansprüche und Grenzen regionaler Verantwortung“ stellte der Ärztliche Direktor des Klinikums Wahrendorff in einem vielbeachteten Vortrag seine aktuelle Position dar.
Auf der Tagung in Emden ging es laut Einladung um ein Thema, „das im Selbstverständnis einer gemeindepsychiatrischen Orientierung einen Stachel darstellt: die Entlassung von Patienten aus der Heimatklinik in ferne und auch geschlossene Heime.“ Gerade bei eher jüngeren Menschen mit geringer oder instabiler Behandlungsakzeptanz und sozial auffälligem Verhalten (Abhängigen, Psychose-Kranken und Menschen mit Persönlichkeitsstörungen) würden die „gut evaluierten und strukturierten üblichen Behandlungskonzepte” oft versagen, hieß es in der ackpa-Einladung.
„Was macht Ihr Nachbar eigentlich bei uns im Heimbereich?“, betitelte Ziegenbein seinen Vortrag über den Heimbereich als Entwicklungsraum für Menschen, bei denen die Gemeindepsychiatrie an ihre Grenzen gekommen ist. „Manche Bewohner schaffen den Auszug, andere wiederum nicht. Aber woran liegt es?“ Zu dieser Fragestellung wird aktuell eine Studie von Julia Krieger aus dem Bereich Forschung und Entwicklung am Klinikum Wahrendorff durchgeführt.
Ziegenbein spricht von „beobachtender Demütigkeit”
Von „beobachtender Demütigkeit“ spricht Ziegenbein in diesem Zusammenhang. Er sei viele Jahre in der Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover tätig gewesen, schilderte er nun im Gespräch mit dem EPPENDORFER. „Damals habe ich manchmal das Gefühl von Versagen gehabt, wenn dann doch eine Heimunterbringung erfolgen musste.“ Als Ärztlicher Direktor des Klinikums Wahrendorff in Sehnde bei Hannover sieht er das mittlerweile naturgemäß anders. „Das Wort ,Heim’ drückt auch nicht treffend aus, welche Möglichkeiten es dort für schwer chronisch seelisch erkrankte Menschen geben kann“, betont Ziegenbein. „Hier im Heim habe ich doch viel bessere Möglichkeiten.“
Manchmal sei das Herausnehmen aus konfliktbehafteten Situationen erfolgversprechender als die gemeindepsychiatrische Versorgung. Das Finden einer Wohnung zum Einzug sei für diese Menschen oft genug das Riesenproblem, verdeutlicht Ziegenbein. Mit Verweis darauf, dass sich dann meist auch nur Wohnraum in sozialen Brennpunkten finden lässt. „Menschen mit auffälligem Verhalten ecken im städtischen Bereich oft rascher an, wären in einer dörflichen Umgebung, wo der Umgang mit seelisch Erkrankten zur Normalität geworden ist, besser aufgehoben.“ Die Behandlung in der Nähe des eigenen Zuhauses funktioniere eben nicht bei jedem, betont Ziegenbein „aus beruflicher Erfahrung in vielen Jahren“.
„Das Bild, dass in geschlossenen Heimbereichen nichts passiert“
Müssen sich die Akteure in der Psychiatrie deswegen gegenseitig Vorwürfe machen? Oder sollten sie ihr Wirken nicht doch besser als Teilhabe an einem gemeinsamen System betrachten? „Es gibt da immer noch das Bild, dass in geschlossenen Heimbereichen nichts passiert“, hat Ziegenbein bei Kollegen und als gesellschaftliches Phänomen beobachtet. „Nach Besuchen von Interessierten im Klinikum Wahrendorff erfahre ich dann als Reaktionen: Da gibt es ja viel mehr Angebote als gedacht! Da kann man manchmal erleben, wie sich Vorurteile und Perspektiven ändern.“
Im Heimbereich in Sehnde bei Hannover gebe es sehr viele niedrigschwellige Angebote. „Menschen sollen sich wertgeschätzt erleben. Sie sollen dahin kommen, dass sie erleben: Ich leiste einen Beitrag zur Gesellschaft und habe eine wichtige Rolle, in dem was ich tue.“ Der Ärztliche Direktor des Klinikums Wahrendorff will wegkommen von verhärteten Ansichten hin zu einer differenzierten Betrachtung. „Bei allem fachlichen Streit vergisst man gern auch mal den Betroffenen.“ Gerade im Umgang mit der Gruppe der Komplexfälle mangele es häufig an Kenntnissen. Verschiedene Perspektiven böten da eine Chance, einen Dialog hinzubekommen, andere Versorgungsmodelle gerade für diese Patienten zu entwickeln, die im Versorgungssystem keinen Platz finden konnten: „Lasst uns doch mal zusammen was probieren.“
Ziegenbein fordert von beiden Lagern gegenseitige Neugier. Er propagiert Akzeptanz, demonstriert Offenheit und lädt Zweifler ein, sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen: „Melden Sie sich bei meiner Sekretärin unter Telefon (05132) 90-2286 oder per Mail an k.oppermann@ wahrendorff.de.“ Es geht Ziegenbein um das gemeinsame Bemühen, Kranken zu helfen. Dabei markiere die Unterbringung in einem psychiatrischen Heim keinesfalls das Ende: „20 bis 25 Prozent der Heimbewohner ziehen irgendwann auch wieder aus – die Heimunterbringung ist also kein ,One Way’.“