Rickling: Kisten
voller Leben

Präsentierte ihre Kiste als Anklage gegen ihre Eltern: Steffi Kreutzer. Foto: Geißlinger

Was macht das Leben aus? Was hat etwas ver-rückt, was geholfen? Über mehrere Jahre haben sich Menschen mit psychischen Krankheiten in einem Projekt der Antistigma-AG des Psychiatrischen Zentrums Rickling mit ihren Biografien auseinandergesetzt. Die Ergebnisse haben sie in Kisten gepackt und kunstvoll gestaltet. Nun wurden diese Kisten zu einer Ausstellung zusammengefasst. Noch bis September sind die Werke im Kunsthaus Rickling zu sehen. 

Da steht sie nun: Steffi Kreutzer, die als Kind Opfer von brutalstem Missbrauch wurde, spricht am Rednerpult vor Publikum, präsentiert ihre Kiste: „Das ist eine einzige Anklage“, sagt die großgewachsene Frau. Eine Anklage gegen ihre Eltern: Den Vater, der sie und ihre Schwester missbrauchte, die Mutter, die nichts dagegen unternahm, stattdessen das Kind noch als hässlich und dick beschimpfte. „Meine Kindheit ist getötet worden, als ich vier Jahre alt war, dennoch stehe ich heute hier“, sagt sie. 

19 Personen haben aus ihrem Leben einen Schaukasten gestaltet

Ein Sieg über ihre Vergangenheit, eine Chance, ihre Geschichte aufzuarbeiten: Steffi Kreutzer zählt zu den Künstlerinnen und Künstlern, die sich am Projekt „Kisten voller Leben“ der „Aktion Sinneswandel“, der Anstigma-AG des Psychiatrischen Zentrums Rickling, beteiligt haben. Insgesamt 19 Personen, davon 17 mit psychischen Krankheiten sowie zwei Beschäftigte des Fachkrankenhauses, haben im Rahmen des Projekts je eine Kiste gestaltet, in der wichtige Punkte ihrer Biografien zu sehen sind. „Ein Leben im Schaukasten, das die Künstlerinnen und Künstler uns anvertrauen“, sagte Pastor Andreas Kalkowski,  Direktor des Landesvereins für Innere Mission in Schleswig-Holstein, bei der Eröffnung der Ausstellung. 

Eine Er-Öffnung im buchstäblichen Sinne, denn die zu Beginn der Veranstaltung noch verschlossenen Kisten wurden im Verlauf des Abends aufgeklappt. Nicht mehr alle der ursprünglich 19 Werke sind dabei, einige Teilnehmer an dem Projekt „haben ihre Kiste endgültig geschlossen“, erklärte Andrea Rothenburg, die die Antistigma-Gruppe leitet. Sie dankte alle Beteiligten für ihre Mut: „Einige Geschichten werden hier zum ersten Mal öffentlich erzählt. Und niemand macht es aus narzisstischen Gründen, sondern alle wollen aufklären und anderen in ähnlicher Lage helfen.“

Sexueller Missbrauch und Gewalt

Das betrifft unter anderem das Thema sexuellen Missbrauch und Gewalt: Neben Steffi Kreutzer haben Britta Behrmann und Carl-Heinz Günther in ihrer Kindheit Grausames erlebt. So zeigt Günther in seiner Kiste, wie eine Gestalt mit Teufelshörnern auf ein Kind losgeht, dass sich in die hinterste Ecke des Bettes drückt. Behrmann stellt den Schrecken ihrer Jugendjahre ihre heutige künstlerische Betätigung gegenüber: „Ich häckel’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“, lautet das trotzige Motto. Kunst ist auch für Steffi Kreutzer ein Anker: Sie ist Bildhauerin, hat unter anderem die Gestalt eines kleinen Mädchens geschaffen, das laut um Hilfe ruft und mit dem Finger zeigt: „Das ist die Petze, die die Gewalttäter anzeigt“, so Kreutzer, die heute Mutter eines Sohnes ist – ihr zweiter wichtiger Anker.

Auch andere Faktoren können ein Leben ver-rücken. Etwa Alkohol, wie im Fall von Hans-Heinrich Kuppe. Oder ein Unfall, wie bei Rolf Prieß, der in einem Schacht verschüttet wurde. Oder die Diagnose einer psychischen Krankheit. Damit offen umzugehen, kann auch heilsam und hilfreich sein: „Die Diagnose war für mich ein Befreiungsschlag“, findet Peter Juhl, der nach Jahren harter Arbeit Stimmen hörte. Auch Reni, die ihren Nachnamen nicht nennen will, kann mit der Diagnose „Bipolar II“ gut leben: „In die Klinik zu gehen, war die beste Entscheidung“, sagt sie. Mit ihrer Krankheit ist sie erst „verschwiegen umgegangen“, inzwischen steht sie dazu. Dabei hätten ihr das Projekt und die Gemeinschaft in der Gruppe geholfen.

Einige der Teilnehmer des Projekts sind inzwischen verstorben, ihre Kisten – und damit die Erinnerung an ihre Leben – sind aber weiter zu sehen. 

Gäste der Ausstellung, die bis zum 26. September montags bis freitags von 9 bis 15 Uhr im „Kunsthaus Rickling“ zu sehen ist, dürfen in einer eigenen „Besucherkiste“ Notizen oder Zeichnungen zu ihrer eigenen Biografie hinterlassen.

Bis zum Ende der Ausstellung am gibt es ein Rahmenprogramm: Lesung mit Heinke Pieper aus ihrer Biografie „Und dann das mit dir …“, Donnerstag, 15. August, 18 Uhr, Abschlussveranstaltung, Donnerstag, 19. September, 18 Uhr.