Nachtcafé statt Notfallambulanz

Das Nachtcafé in der Bremerhavener Innenstadt ist abends ein gefragter Anlaufpunkt für Menschen in psychischen Krisen. Foto: Rüdiger Boetcher

Menschen, die einmal psychisch krank waren oder gerade eine Krise erleben, können immer wieder in schwierige emotionale Situationen gelangen. Dies geschieht häufiger in den Abend- und Nachtstunden, wenn sie allein sind. Auf der Suche nach Hilfe scheuen Betroffene jedoch oft die klinische Atmosphäre eines Krankenhauses. Um ihnen in dieser Situation eine niedrigschwellige Anlaufstelle zu bieten, gibt es in Bremerhaven seit Anfang 2017 das „Nachtcafé“. Im Oktober 2018 erhielt das Modellprojekt einen bundesweiten Sozialpreis und soll nun zu einer dauerhaften Einrichtung verstetigt werden.

Menschen, die selber wissen, was es heißt, wenn die Seele leidet, stehen den Besuchern hier zur Seite. Denn geleitet wird das in der Tagesstätte Boje angesiedelte Nachtcafé in der Bremerhavener Innenstadt von zwei ausgebildeten Genesungsbegleitern. Sie haben selbst Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und zusätzlich eine Ausbildung als Experienced Involvement (EX-IN)-Mitarbeiter. Die Besucher des Nachtcafés können mit diesen „Experten durch Erfahrung“ bei Bedarf in Kontakt treten, ein Einzelgespräch führen, sich mit anderen Besuchern austauschen, ein Gesellschaftsspiel spielen, etwas trinken oder einfach nur da sein. „Dahinter steckt der Gedanke, dass Menschen, die selber Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen haben, Betroffene auf einer wirkungsvolleren Ebene erreichen können, als Mediziner“, erklärt Angelika Lacroix das Konzept. Die ehemalige Pflegedienstleiterin aus dem Klinikum Bremerhaven-Reinkenheide gGmbH hat das Nachtcafé zusammen mit dem Chefarzt der dortigen psychiatrischen Klinik, Dr. Gisbert Eikmeier, initiiert.

„Auch Angehörige sind herzlich willkommen”

„Das Nachtcafé bietet Menschen mit einer psychischen Erkrankung eine niedrigschwellige Alternative zum Aufsuchen der Notfallambulanz im Krankenhaus“, so der Psychiater. Die Idee für das Nachtcafé entstand während einer Fachtagung. Das inzwischen als Modellprojekt anerkannte Angebot wird im Zuge der Psychiatriereform 2.0 durch den Bremer Senat gefördert und nahm zum Jahresbeginn 2017 seine Arbeit auf. „Grundsätzlich kann jeder kommen, auch Angehörige, die eine schwierige Situation erleben, sind herzlich willkommen“, erklärt Genesungsbegleiterin Andrea Kühl. Jeder Besucher definiere selbst, was für ihn „Krise“ bedeute und welche Form von Unterstützung hilfreich sei. Ziel sei es, jeden Besucher dazu zu befähigen, seine Krise eigenständig und möglichst ohne Aufenthalt in der Klinik zu bewältigen.

Von Montag bis Freitag nutzen durchschnittlich acht bis zehn Menschen zwischen 18 und 22 Uhr das Angebot. Die Besucher kommen aus ganz unterschiedlichen Hintergründen: „Manche möchten mit uns ein Einzelgespräch führen. Vielen tut es einfach nur gut unter Menschen zu sein, und andere möchten der Einsamkeit am Abend entgehen“, beschreibt Kühl. „Oft kommen sie in der ersten Zeit nach der Entlassung aus der Klinik hierher.“ „Wir haben es hier mit der gesamten Bandbreite an psychischen Problemen, aber auch körperlichen Beeinträchtigungen zu tun“, beschreibt Lacroix das Beschwerde-Spektrum der Besucher. Insbesondere wenn es sich um neue Gäste handelt lassen die Genesungsbegleiter die Leute erst einmal ankommen, erklären ihnen dann die Abläufe, bieten je nach Bedarf ein Gespräch oder andere Hilfen an. „Wir versuchen die Leute zu befähigen zu erkennen, welcher Weg für sie der richtige ist“, beschreibt Kühl die Vorgehensweise.

Geschulte Genesungsbegleiter mit eigener Krisenerfahrung stehen Ratsuchenden bei Bedarf zur Seite. Zweiter von links: Chefarzt Dr. Gisbert Eikmeier. Foto: Rüdiger Boetcher

Die Mitarbeiter des Nachtcafés arbeiten auf der Grundlage des so genannten Recovery-Konzeptes, das die Wiedergenesung aus der Krise mithilfe körpereigener Selbstheilungskräfte der Betroffenen unterstützt. Mit dem einzigartigen Projekt gewann das Team im Oktober 2018 den bundesweit ausgeschriebenen „mitMenschPreis“ des Bundesverbands evange- lische Behindertenhilfe e.V. (BeB). Bereits zum fünften Mal zeichnete der Verein Projekte und Initiativen der Behindertenhilfe oder Sozialpsychiatrie aus, die Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf mehr selbstbestimmte Teilhabe ermöglichen. Das Nachtcafé Bremerhaven wurde im Wettbewerb von einer unabhängigen Jury aus 44 eingereichten Projekten als Sieger ermittelt und erhielt den mit 10.000 Euro dotierten ersten Preis. Mit dem Preisgeld wird derzeit eine eigene Website eingerichtet, und auch sonst haben die Akteure des Nachtcafés noch einiges für die Zukunft vor: „Wir würden gerne auch am Wochenende aufmachen“, betont Kühl und spiegelt damit den Wunsch vieler Besucher wieder. Vordergründiges Ziel ist allerdings die Verstetigung des noch bis Ende 2019 laufenden Modellprojektes zu einem dauerhaften Angebot. „Dafür sind wir derzeit in Gesprächen mit unterschiedlichen Institutionen und suchen noch Unterstützer“, betont Eikmeier. Dr. Heidrun Riehl-Halen

Das Nachtcafé befindet sich in den Räumen der Tagesstätte „Boje“, Bürgermeister-Smidt-Straße 129, 27568 Bremerhaven. Zu erreichen ist es mit den Buslinien 505, 506, Haltestelle Martin-Donandt-Platz. Der Eingang befindet sich direkt vor der Bushaltestelle. Kontakt: Klinikum Bremerhaven-Reinkenheide, Klinik für Psych- iatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Dr. Gisbert Eikmeier, gisbert. eikmeier@klinikum-bremerhaven.de