Lebenskrisen in
Sprechblasen

Ein Krankenhausbesuch wird zum Höllentrip in die Abstraktion. Nando von Arb/Edition Moderne

Die Kunstform Comic beschäftigt sich schon lange intensiv mit Fragen seelischer Gesundheit. Wie vielschichtig das ausfallen kann, zeigen zwei Neuerscheinungen aus dem Verlag Edition Moderne.


Der Daredevil ist depressiv, Hulk hat eine dissoziative Identitätsstörung und Batman wäre nie Batman geworden, wenn er das Trauma vom gewaltsamen Tod seiner Eltern überwunden hätte. Comics sind bis weit in den Mainstream hinein durchzogen von seelischen Krisen, Krankheit und Störungen – vielleicht mehr als jede andere Kunstform. Im auf Graphic Novels spezialisierten Schweizer Verlag Edition Moderne zeigen Rina Jost und Nando von Arb, wie unterschiedlich die Beschäftigung mit seelischen Krisen im Genre ausfallen kann und welche enorme ästhetische Bandbreite sie bespielen.

Depressionen aus Angehörigenperspektive

Rina Josts Band „Weg“ handelt von Depressionen und erzählt aus der Angehörigenperspektive, wie die Krankheit Menschen metaphorisch aus der Welt reißt. Worte dafür findet das Buch lange nicht, aber Bilder: Über vier Seiten ist nachgezeichnet, wie ein Mensch unters Kissen kriecht, das Knäuel sich zum Felsbrocken verhärtet und schließlich in der Matratze versinkt, bis nur noch aufsteigende Luftbläschen zu sehen sind. „Weg“ ist die Geschichte einer Schwester, die hinterhersteigt, um die „Versteinerte“ zu suchen. Der Weg in die Unterwelt ist ein klassisches Motiv der Heldenreise, hier in freundlichen Farben dynamisch mit Cartoonanleihen gezeichnet – ganz besonders lustig da, wo es eigentlich nichts zu lachen gibt. Ohne die Finsternis heraufzubeschwören, vermittelt Rina Jost ein plastisches Gefühl für die Hilflosigkeit der Helfenden und macht genau dafür ein bisschen Mut.

Wo die Welt selbst zum Monster wird …

Das zweite Buch, „Fürchten Lernen“, handelt von Angststörungen. Nando von Arb hat es mit deutlichen Anleihen an die Malerei gezeichnet: Flächig, grob und geometrisch erscheint die Welt voller verfremdeter und doch schmerzhaft konkreter Einschläge der Gewalt. Ein Tritt ins Gesicht, ein Sturz aufs Eis, eine Platzwunde in der Wasserrutsche: Solche Erfahrungen hinterlassen Spuren, von denen irgendeine irgendwann zum Umbruch in der Lebensgeschichte wird. Da „fühlte ich mich nicht mehr wie ein Kind“, heißt es im Comic, als die Angst kam und nie wieder richtig ging.
Nando von Arbs biographische Episoden bleiben vage, metaphorisch und sind nicht immer eindeutig zu lesen. Da wuchern Pflanzen aus Ohren, Mund und Augenhöhlen werden auf der Nachbarseite mit der Schere beschnitten und darunter steht: „Warum bin ich so, wie ich bin?“ Es geht um die Kontinuitäten vom Kind, das sich um die Klassenfahrt herummogelt, bis zum Erwachsenen, der sich Lügengeschichten ausdenkt, aus Angst, mit den Kollegen zu Mittag zu essen. Hier dringen keine Monster in die Welt ein, sondern die Welt selbst wird zum Monster.

Diskriminierungssensibel und geschichtsbewusst

Für die Darstellung solcher Zweifel an „Wirklichkeit“ und „Normalität“ haben Comics viele Mittel. Da sind die Freiheiten der Zeichnungen selbst, aber auch die Spannung zwischen Text und Bild, die schon im einfachsten Cartoon mindestens zwei konkurrierende Perspektiven auf die Welt bieten. Dass Comic so viel über seelische Gesundheit weiß, hat aber noch andere Gründe. Der wichtigste ist ein kultureller: Gerade die jüngste Generation der intellektuellen Comicszene ist hochgradig diskriminierungssensibel und geschichtsbewusst. Die in den USA im frühen 20. Jahrhundert wesentlich von Einwanderern geprägte Gattung war von Anfang an ein Außenseitermedium. Es ist bis heute zugängiger als die kostspielige Filmbranche oder der institutionell verengte Literatur- und Musikbetrieb. Selbst die zeichnerisch aufwändigen Spielarten des modernen Comics sind dem Pop näher als der zeitgenössischen Kunst – und haben trotzdem viel von deren Reflexionstiefe. Kurz gesagt: Die Szene ist sehr offen für Fragen von Betroffenheit und Stigmatisierung.

“Das Genre hat sich selbst dekonstruiert, seine Bösen teils rehabilitiert”

Im Heldencomic hat sich mit dem „wahnsinnigen Verbrecher“ sogar ein eigener Monstertypus herausgebildet: der Joker vorne weg, aber auch sonst hat Batman kaum einen Feind, der nicht im „Arkham Asylum“ einsäße. Das sind Horrorbilder von Sadismus und Unberechenbarkeit, die auf vermeintlichem Weltwissen aufsetzen: das Urböse personifiziert als Kranke.
Schon in den 1980er-Jahren setzte hier ein Umdenken ein, dem die Verfilmungen heute so langsam nacheifern. Das Genre hat sich selbst dekonstruiert, seine Bösen teils rehabilitiert und die Helden kritisch analysiert. Das hat Schule gemacht und eine ganze Kunstform geöffnet für die Fragen seelischer Gesundheit.
Welche Blüten diese Entwicklung nun im Avantgarde-Segment treibt, zeigen die beiden jüngsten Neuerscheinungen der Edition Moderne mustergültig. Und es lohnt sich, sie weiter im Auge zu behalten. Jan-Paul Koopmann
Nando von Arb: „Fürchten Lernen“, Edition Moderne 2023, 428 S. Hardcover, 39 Euro
Rina Jost: „Weg“, Edition Moderne 2023, 120 S., Hardcover, 26 Eur