Vergessene Kinder
im Blick

Wuchs als Chefarzttochter mit Psychiatrie auf und engagiert sich heute für Kinder von psychisch kranken Eltern: Andrea Rothenburg. Foto: Geißlinger

Die Faschingsfeiern in „Bonnies Ranch“, der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin, fand Andrea Rothenburg schon als Kind spannend: „Da herrschte eine bestimmte Atmosphäre, die mich angezogen hat.“ Heute dreht Rothenburg Filme, in denen psychisch Kranke im Mittelpunkt stehen. Besonders setzt sie sich für Kinder psychisch Kranker ein. Für ihre Werke und ihr berufliches wie ehrenamtliches Engagement erhielt die 47-Jährige jetzt einen Antistigma-Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

Wie stigmatisiert psychisch Kranke und die Krankheitsbilder sind, bekam Rothenburg sozusagen aus zweiter Hand schon als Kind zu spüren. Ihr Vater, der Psychiater Ernstjürgen Rothenburg, wurde Chefarzt der Fachklinik Rickling, die Familie zog vom trubeligen Berlin ins kleinstädtische Bad Segeberg. Für die dortigen Kinder hatte Rothenburg einen „Sonderstatus“, berichtet sie, weil sie durch ihren Vater,  den „Irrenarzt“, Kontakt zu den „Bekloppten in Rickling“ hatte – selbst Lehrkräfte sprachen in diesem Ton von der Fachklinik und den Menschen, die dort behandelt wurden. „Ich habe diese Sprache schon damals schon schlimm gefunden“, sagt Rothenburg. Selbst als Pflegekraft oder Ärztin dauerhaft in der Psychiatrie arbeiten wollte sie aber nicht, das wusste sie nach einem Praktikum. Der Klinikalltag war nichts für sie, die vielen Dinge, die schief laufen oder sich nur langsam ändern, regen sie auf: „Ich bin eine große Systemkritikerin, ich sehe so viele Dinge, die nicht gut laufen.“ 

Statt Klinik hieß Rothenburgs Berufsziel am Anfang Bühne: 1994 fing sie als Regieassistentin am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater an, begann 1999 ein Studium an einer Film-Akademie in Berlin. Es folgte eine Drehbuchausbildung. „Aber wenn ich ein Buch schreibe, habe ich keinen Einfluss mehr darauf, was daraus wird, wer die Rollen spielt“, sagt sie. „Ich möchte die Sachen gern in der Hand behalten.“ Sie merkte auch, dass Spielfilme sie nicht reizen: „Mich interessiert das wahre Leben.”

Es begann mit einem Radiobeitrag

Für einen journalistischen Radiobeitrag ging Rothenburg das erste Mal mit Mikrofon in eine psychiatrische Abteilung. Aus ihrem Gespräch mit einem jungen Mann mit Schizophrenie und Cannabis-Abhängigkeit entstand ein Theaterstück, vor allem brachte es Rothenburg ein „Aha-Erlebnis“: „Der fand es toll, dass ihm jemand zugehört hat.“

Gemeinsam mit ihrem Partner Uwe Osswald Krienke, der sich um die technische Seite und Organisation kümmert, hat Rothenburg inzwischen mehr als ein Dutzend Filme gedreht. In „Neben der Spur“ geht es um Depression, „Endlich trocken!“ befasst sich mit Sucht, „Plan B“ schildert Wege aus der Krise. „Wir sind hier“ stellt Rothenburgs Herzensthema in den Mittelpunkt: Das oft vergessene Leid der Kinder psychisch kranker Eltern. 

Auf dieses Thema stieß Rothenburg als junge Frau in der Fachklinik Rickling: „Da gab es eine an Schizophrenie erkrankte Mutter, aber keiner hat auf die Kinder geguckt, keiner ist auf die Idee gekommen“, berichtet sie. „Ich war total erschüttert und habe meinen Vater gefragt, wie das angehen kann, dass eine große Klinik keinen Spielplatz, keine Spielecken für die Kinder hat.“ Das hat sich inzwischen geändert, daran ist sie selbst beteiligt, aber auch die Filme habe dazu beigetragen, und das war das Ziel: „Es ist bei meiner Arbeit auch Aktivismus dahinter“, gibt Rothenburg zu, die sich ehrenamtlich beim Verein „Psychiatrie in Bewegung“ für Kinder psychisch kranker Eltern einsetzt.

„Man kennt sich, findet sich, vertraut sich.“

Ihre Protagonist*innen findet Rothenburg inzwischen meist durch langjährige Kontakte: „Man kennt sich, findet sich, vertraut sich.“ Wichtig sei ihr, dass es den Held*innen ihrer Filme gut geht, dass der Auftritt vor der Kamera im besten Fall sogar einen therapeutschen Effekt haben kann.

Die ersten Filme hatte Andrea Rothenburg vorfinanziert, und bis heute „rechne ich nie aus, was ein Film kostet und was er einbringen muss“. Inzwischen aber können Rothenburg, Krienke und die beiden gemeinsamen Töchter von der Film-Arbeit leben. Die Werke laufen in Kinos und langjährig bei Fachveranstaltungen und in Schulen. Rothenburg tritt als Referentin auf, gibt Workshops. Eigentlich sei das absurd: „Dass ich als Filmemacherin Ärzten oder Lehrkräften den Umgang mit Kindern erklären soll.“ 

Aktuell ist sie mit einer festen Stelle in Rickling beschäftigt. Aber Zeit für eigene Filme soll immer noch bleiben. Ein neues Projekt ist bereits in Arbeit.

Esther Geißlinger