“Nennen Sie sechs Tiere ohne Beine”: So lautet eine der Fragen, die Hedwig D. im Jahr 1908 bei ihrer Aufnahme ins St. Jürgen-Asyl in Ellen, dem Vorgänger des heutigen Klinikums Bremen-Ost, gestellt wird. Ihr fallen nur drei ein: “Schlange, Fisch, Würmer”, notiert der Arzt, und: “Wissen Sie noch mehr?”
Mit diesen und vielen anderen standardisierten Fragen (“Was ist der Unterschied zwischen Tür und Tor?”, “Wodurch unterscheiden sich Irrtum und Lüge?”) sollten die Ärzte herausfinden, wie es um die kognitiven Leistungen der neu aufgenommenen Patienten bestellt ist. Hedwig D. fällt trotz richtiger Antworten durch: Ihre Diagnose lautet „moralische Idiotie“.
Studierende werten Krankenakte aus
Die Krankenakte, aus der diese Informationen stammen, ist im Archiv des Klinikums Bremen-Ost verwahrt. Bremer Studierende der Geschichte haben sie ausgewertet und gemeinsam mit Studierenden der Performance Studies ein Theaterstück daraus gemacht. Und haben dabei einen Psychiatriefall rekonstruiert, der ein Schlaglicht auf Psychiatrie und Moralvorstellungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts wirft – und auf eine besondere Biographie.
Drohende Entmündigung
Denn Hedwig D. wird selbst im St. Jürgen-Asyl vorstellig. Und zwar nicht, weil sie bei sich selbst eine Krankheit vermutet, sondern im Gegenteil: Sie will beweisen, “nicht geisteskrank” zu sein. Damit will sie eine von ihrem Vater initiierte Entmündigung verhindern. Der ist angesehener Bremer Bürger und Leiter einer Realschule. Seine Tochter jedoch war zuvor schon häufiger auffällig geworden: mit Diebstählen, Lügen und sexuellen Beziehungen sowohl zu Männern als auch zu Frauen. Ihr Plan, die Entmündigung durch persönliche Vorsprache zu verhindern, geht jedoch nicht auf. Mit Unterbrechungen wird sie bis zum Jahr 1912 in Ellen verbringen.
Direktor der Klinik ist zu jener Zeit der Psychiater Anton Delbrück, der als erster die Krankheit “pseudologia phantastica” beschrieb, was heute eher als pathologisches Lügen bezeichnet und innerhalb der narzisstischen Persönlichkeitsstörung subsumiert wird.
Briefe und Postkarten in der Krankenakte
Die Krankenakte, die die Studierenden ausgewertet haben, ist insofern etwas besonderes, als sie viele persönliche Informationen durch Selbstzeugnisse der Patientin enthält. Neben den von Ärzten ausgefüllten Formularen finden sich darin Briefe und Postkarten, die Hedwig D. erhalten und geschrieben hat. Die Studierenden zeichnen danach heute ein differenziertes Bild: Während die ärztlichen Diagnosen Hedwig D. “moralische Idiotie” oder auch “Hysterie” bescheinigen, schließt sie Freundschaften zum Pflegepersonal; sie betreuende Schwestern sehen ihren Aufenthalt klar als von “Bestrafung” motiviert und nicht in geistiger und seelischer Erkrankung begründet.
Und auch Hedwig D. selbst findet sich mit ihrer Situation nicht so einfach ab. So schreibt sie im Jahr 1909 an ihren Vater: “Man kann hier ja rein verzweifeln. Um mich kümmert sich kein Mensch, ob es mir gut geht oder schlecht, danach scheint Niemand mehr zu fragen. Wie mir aber zu Mute ist, das allerdings ahnst Du nicht, wenn Du Dich aber einmal in meine Lage hineinversetztest, dann könntest Du es Dir denken, was es heißt Tag und Nacht unter Verrückten zuzubringen. Habe ich das nötig? Nein, das habe ich nicht und ich will hier auch jetzt nicht länger bleiben.” Dieser Brief fand sich in ihrer Akte; abgeschickt wurde er demnach nicht, vielmehr wurde er vermutlich bei einer Durchsuchung unter ihrer Matratze gefunden.
Flucht und Verschwinden
Mehrfach gelingt es Hedwig D., aus der Klinik zu entkommen: Zweimal flieht sie, zweimal wird sie auch als „ungeheilt“ entlassen – unter anderem, um nach dem Tod ihrer Mutter ihren erkrankten Vater zu pflegen.
Nach ihrer endgültigen Entlassung 1912 verliert sich ihre Spur zunächst. Erst 1920 taucht sie noch einmal in behördlichen Akten auf, ihr wird ein Pass ausgestellt für eine Reise ins damals besetzte Saarland. Nur schlaglichtartig taucht sie in den Folgejahren überhaupt noch einmal auf: 1928 bezieht sie ihren Wohnsitz in Bremen-Walle, vermutlich bei einer Freundin; 1950 stirbt Hedwig D., als Beruf ist “Krankenpflegerin” vermerkt. Ihre Freundin, mit der sie offenbar zusammenlebte, wird nach deren Tod 1964 neben ihr bestattet. Polizeilich oder ärztlich aktenkundig wird sie nach 1912 nicht mehr.
Karolina Meyer-Schilf