Erste Hilfe bei
schweren Krisen

Auf Bahnhöfen sind häufiger verwirrte Personen anzutreffen. Foto: pixabay

Rund ein bis zwei Prozent der deutschen Bevölkerung ist schwer psychisch erkrankt. Sie können in Krisen unter außerordentlichen Ängsten leiden oder den Kontakt zur Realität verlieren. Was dann zu tun ist – wie ihnen geholfen werden kann und wie gering die tatsächliche Gefahr ist, die von solchen mitunter bedrohlich wirkenden verängstigten Menschen ausgeht, das hat die Bundes-Pychotherapeutenkammer (BPtK) in einem “Hintergrund” zusammengestellt.  

Die Polizei hatte ihn auf einem Bahnhof aufgegriffen. Fünf Tage und Nächte war Werner W. (Name geändert) in der Stadt unterwegs gewesen, ohne zu essen, zu trinken oder zu schlafen. Bei hatte sich eine Wahnrealität  über die Alltagsrealität geschoben.  Folge:  Wichtige Beziehungen gingen zu Bruch, eine berufliche Tätigkeit war nicht mehr möglich, das Leben, wie er es kannte, veränderte  sich massiv.  Für Werner W. stand ein Atomkrieg unmittelbar bevor und er musste die Welt als Wiedergeburt Jesu Christi retten. Im Grunde lebte er in einem „Zustand extremer Angst“.

Ein junger Polizeibeamter schätzte seine Situation am Bahnhof richtig ein: Vor ihm saß ein erschöpfter und kranker Mensch. „Sie sehen verhungert aus“, sprach er ihn an. „Darf ich Ihnen mein Pausenbrot anbieten?“ Diese Fürsorge löste für Werner W. viel der Anspannung der letzten Tage. Diesem Polizisten, dachte er, kann ich auch sagen, wer ich bin. „Ich bin Jesus Christus“, sagte er. Der Polizist stellte das nicht infrage. „Das war genau richtig“, urteilt Werner W. heute.

„Diskussionen über meine Vorstellung als Jesus Christus hätten zu nichts geführt.“ Stattdessen das Gespräch über körperliche Befindlichkeiten: „Sind sie müde? Ist Ihnen kalt?“ Richtig sei auch gewesen, Distanz zu wahren. Der Polizist saß hinter seinem Schreibtisch, er auf einer Bank an der Seite. „Auf mich zuzugehen, hätte meine Angst verstärkt.“ Durch die Distanz fühlte sich Werner W. dagegen mehr respektiert.

„Können wir etwas für Sie tun?“, fragte der Polizist weiter. Das konnte er. Er konnte die Eltern benachrichtigen. Das Wiedersehen berührte Werner W. sehr. Er hatte sie lange nicht gesehen. Auch ihre Zuwendung half enorm, beruhigte und ermöglichte ihm den Weg in die Klinik. Vor der Klinik wuchs die Angst noch einmal erheblich. Die Klinik, das war „ein riesiger Betonklotz im Wald“ und gehörte „zum System des Bösen“. Ein Pfleger „packte“ Werner W. „ohne weh zu tun“. In diesem Moment war ich noch zu weit weg, um Einsicht zu haben, sagt er heute. Einmal auf Station willigte er in seine Behandlung ein.

Psychische Krankheit und Gewalt 

Krisen, bei denen es zu schwerer Gewalt kommen kann, sind bei psychischen Erkrankungen äußerst selten. Das allgemeine Risiko in Deutschland ermordet oder erschlagen zu werden, betrug im Jahr 2019 beispielsweise etwa eins zu 160.000. Das Risiko, durch die Gewalttat eines psychisch kranken Menschen zu sterben, lag dagegen bei ungefähr eins zu eineinhalb Millionen, klärt die Therapeutenkammer auf.

Bei  psychotisch erkrankten Menschen sei das Risiko (nach einer Übersichtsarbeit über 20 Studien) um  den Faktor 15 erhöht. Das bedeutet: Während in der Allgemeinbevölkerung das Risiko, ein Tötungsdelikt zu begehen, bei durchschnittlich 0,02 Prozent liegt, liege es bei psychotisch kranken Menschen bei 0,3 Prozent – immer noch verschwindend gering.  Alkohol und Drogen sind der größte Risikofaktor für Gewalttaten. Alkohol erhöhte laut einer dänischen Studie das Risiko für eine Gewalttat um rund 300 Prozent für Männer und um fast 650 Prozent für Frauen. Traten psychische Störungen und Substanzmissbrauch zusammen auf, stieg auch das Gewaltrisiko drastisch: Männer begingen dann mehr als achtmal häufiger eine Gewalttat als Männer, die weder psychisch krank waren noch Alkohol oder Drogen konsumierten, Frauen sogar 25-mal häufiger.

Menschen mit psychischen Erkrankungen werden aber weitaus häufiger selbst Opfer von Gewalttaten als sie selbst Gewalttaten begehen. Laut einer britischen Untersuchung berichteten bei einer Befragung 40 Prozent der  Patient*innen, im vergangenen Jahr Opfer eines Verbrechens geworden zu sein. In der Allgemeinbevölkerung waren es nur 14 Prozent. Eine besondere Gefahr besteht für psychisch kranke Menschen auch durch Polizei und Einsatzkräfte, die nicht ausreichend geschult sind und in Krisensituationen häufig hinzugerufen werden, macht die BPtK weiter deutlich.  Die Hälfte der Menschen, die bei Polizeieinsätzen getötet werden, ist psychisch krank, gibt die Kammer die Berichterstattung in der Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei wieder. Die meisten Gewalttaten psychisch kranker Menschen stünden mit einer unzureichenden Behandlung im Zusammenhang. 

Erste Hilfe-Tipps

Hilfe holen!: Wenn Sie den Eindruck haben, dass die Person sich selbst oder andere gefährdet, rufen Sie die Polizei oder den Rettungsdienst an – oder noch besser einen psychosozialen Krisendienst (Namen der Stadt zusammen mit dem Stichwort „Krisendienst“ googeln). Schildern Sie, dass eine Person aufgrund einer psychischen Notlage dringend Hilfe braucht. Fragen Sie bei der Polizei nach Beamt*innen, die mit Menschen in psychischen Notlagen Erfahrung haben.

Kontaktaufnahme? Überlegen Sie, ob eine Kontaktaufnahme möglich ist. Bedenken Sie, dass die Person sich möglicherweise bedroht oder verfolgt fühlt und deshalb auch eine Annäherung als Bedrohung erleben kann. Wenn Ihnen die Situation nicht geheuer ist, halten Sie Abstand und warten ab, bis professionelle Hilfe da ist. Nähern Sie sich nicht, ohne zu fragen, ob dies der Person recht ist. Reagiert Ihr Gegenüber verängstigt oder aggressiv, ziehen Sie sich wieder zurück. Verstellen Sie der Person keine „Fluchtwege“, zum Beispiel Ausgänge. Auch das könnte sie als Bedrohung erleben. Drängen Sie nicht. Lassen Sie Ihrem Gegenüber Zeit, sich zu beruhigen und zu antworten. Allein Ihre nwesenheit kann beruhigen. ·  Wenn andere Menschen da sind, sorgen Sie dafür, dass immer nur eine Person spricht. Kreisen Sie die Person nicht ein.

Reden:  Erkundigen Sie sich, ob Sie Familie, Freund*innen oder eine behandelnde Ärzt*in oder Psychotherapeut*in benachrichtigen können. Warten Sie ab, ob Ihr Gegenüber Hilfe annehmen kann. Hilfe zu holen, ist das Beste, was Sie tun können.   Wenn die Person Ihnen Dinge schildert, dass sie zum Beispiel von Außerirdischen verfolgt wird, eine große Katastrophe droht oder sie „Jesus Christus“ ist, nehmen Sie die Schilderungen ernst. Solche bizarren oder ungewöhnlichen Vorstellungen sind für die Person real. Versuchen Sie, die Person nicht zu beruhigen, indem Sie sagen, dass Sie gar keine Außerirdischen sehen können. Hören Sie einfach zu. Bieten Sie an, bei ihr zu bleiben, bis Hilfe kommt. Lassen Sie zu, wenn sich die Person zurückzieht.   Lenken Sie das Gespräch auf andere Themen. Fragen Sie zum Beispiel nach, ob Ihr Gegenüber Durst hat oder etwas trinken möchte.  Bewegen Sie sich nicht plötzlich oder schnell. Kündigen Sie an, was Sie machen. Fragen Sie zum Beispiel nach, ob es in Ordnung ist, wenn Sie jetzt versuchen, Angehörige anzurufen.

 Sicherheit:  Gefährden Sie sich nicht selbst. Sorgen Sie stets für Ihre eigene Sicherheit oder die Sicherheit anderer in der Situation. Achten Sie darauf, dass auch Ihnen ein Fluchtweg bleibt.

(Quelle: BPtK. s.a. www.bptk.de)