In Hamburg haben das Thalia Theater und die Oberberg Fachklinik Marzipanfabrik einen gemeinsamen Hölderlin-Abend ausgerichtet – mit überraschenden Einblicken in gleich beide Institutionen.
Es hätte auch einfach den ganzen Abend um Berührungsängste gehen können. Stoff dafür bot die gemeinsame Hölderlin-Veranstaltung von Thalia Theater und Oberberg Fachklinik Marzipanfabrik jedenfalls auf diversen Ebenen: Künstler treffen auf Psychiatriepatienten, die Hamburger Kulturszene auf den Therapiebetrieb und wir Gegenwartsmenschen auf Hölderlin, den vor 180 Jahren in Isolation und Wahn verstorbenen Dichter. Mehr als genug Reibungsflächen jedenfalls, um wie gesagt erstmal auf Abstand zu bleiben. Dass es nun aber ganz anders kam, ist vielleicht die größte Leistung der Darstellenden, die auf einen Schlag und mit echtem Knall in circa 30 Sekunden sämtlich Hürden, Barrieren und Sicherheitsabstände ganz einfach über den Haufen gerannt haben.
20 kleine Teams aus Schauspielern und Patienten
Nach einem besinnlichen Chor-Opener inmitten der Backsteinromanik der ehemaligen Marzipanfabrik stürmen sie plötzlich ins Publikum: gut 20 kleine Teams aus Schauspielern und Patienten, um für ihre je eigenen Miniproduktionen zu werben. Die Überforderung des Publikums ist gewollt. In hilflosen Kleingruppen hängt man sich eilig an diesen oder jenen der in weiße Roben gehüllten Marktschreier und versucht, sie im Gewusel nicht zu verlieren. Für Zweifel und Sorgen bleibt schlicht keine Zeit, während die Gruppen immer tiefer in die Klinik eilen: über lange Flure, durch Treppenhäuser und Aufzüge bis zu Behandlungsräumen, Arzt- und Patientenzimmern. Und ein bisschen geht es auch um echte Aufmerksamkeitsökonomie, denn selbst an diesem fast vierstündigen Abend kann niemand wirklich alles sehen.
Der Hölderlin-Abend ist der inzwischen 13. Teil der Reihe „Herzzentrum“, die Schriftsteller und Philosoph Navid Kermani am Thalia Theater mit Gästen aus dem Deutschen Schauspielhaus realisiert. Um die Suche nach dem Schönen soll es dort gehen und um theatrale Interventionen in verschlossene Welten. Frühere Herzzentren fanden etwa in Flüchtlingsunterkünften statt, in Ruderbooten draußen auf der Alster oder im Großbordell „Pink Palace“ auf der Reeperbahn.
Miniaturen über Hölderlintexte
Und diesmal eben in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Miniaturen über Hölderlintexte, die Kermani bereits in seiner außerordentlich lesenswerten Anthologie „Bald sind wir aber Gesang“ (2020, C.H. Beck Verlag) zusammengestellt hatte. Neben Hölderlin ist auch Kermani selbst zu hören, mit Auszügen aus seinem Werk „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ (2022, Carl Hanser Verlag), das sich kunstfertig mit Gott und dem Wesen der Welt beschäftigt, die den menschlichen Verstand übersteigt – ob der nun als gesund gilt oder als krank.
Die meist nur viertelstündigen Theaterfragmente fallen so unterschiedlich aus wie die Menschen, die sie entworfen haben. Drei Wochen zuvor waren Schauspieler in die Klinik gekommen, um die Menschen kennen zu lernen, mit denen sie den Abend bestreiten würden – und zu planen, wie sie das angehen. Schauspielerin Karime Vakilzadeh und Patientin Joyce haben sich etwa an eine Art Übersetzung von Hölderlins „An die klugen Rathgeber“ von 1796 gemacht: einem Schlüsseltext für das Selbstverständnis des Dichters, den die beiden Frauen in mehreren Stufen sprachlich in die Gegenwart übertragen – und vom bis heute wirkmächtigen Dichter zur jungen Hamburgerin. Und natürlich macht es etwas mit einem, wenn man beim Zuhören nicht im Theater, sondern in einem kargen Patientenzimmer sitzt und im dreifachen Sinne um Haltung ringt: die zur Kunst, zur Medizin – und irgendwie auch einfach beim Sitzen auf dem unbequemen Klinikbett.
Überall verschwimmen die Grenzen zwischen den Künstlern mit und ohne Diagnose
Ganz anders fällt die Produktion zu Kermanis „Das große Vielleicht“ aus, das Andreas Bloch und Maku Schulze gewissermaßen sezieren: in Fragmenten vorlesen und lesen lassen und so eher subjektive Zugänge eröffnen, die das sonderbare Setting vergessen machen. Und überall verschwimmen die Grenzen zwischen den Künstlern mit und ohne Diagnose, was zwar seit Jahren als Mantra inklusiven Theaters kursiert, aber eben doch nur selten so gekonnt verunsichert wie hier.
Überhaupt ist bemerkenswert, wie Jette Steckels Quasi-Regie den widerspenstigen Abend zusammenhält. Vom bereits erwähnten Chaos-Einstieg über Momente erster Orientierung bis zur zaghaften Aneignung. Das passiert nämlich mit jedem neuen Gang auf den Innenhof, von wo einen wieder andere Marktschreier zurück in die Klinik führen: zu neuen Stücken und wieder neuen Menschen bis man irgendwann beginnt, Fragen zu stellen und mitzuentscheiden, auf wen man sich nun wie einlassen mag. Und was weder mit Theatermachern noch Psychiatriepatienten sonderlich oft vorkommt: Man spricht miteinander – über das Leben und über die Kunst.
Jan-Paul Koopmann (Originalveröffentlichung in der EPPENDORFER-Printausgabe 4/23)