Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) fordert einen Neuanlauf zur Regelung der Sterbehilfe und schlägt dazu eine Regierungskommission vor. Die Vorstandsvorsitzende der DGS, die Psychiaterin Ute Lewitzka, sagte der Wochenzeitung „Das Parlament“: „Ich habe die inständige Hoffnung, dass man sich noch einmal Zeit nimmt und mit Fachleuten einen Entwurf auf den Weg bringt, der auch der Vielfalt des Themas gerecht wird. Wir müssen vor allem die Menschen schützen, die nur vorübergehend betroffen sind oder die aus sozialen Gründen sagen, sie wollen nicht mehr leben.“
Das Interview im Wortlaut:
Das Parlament: Frau Lewitzka, der Bundestag hat sich nicht auf eine Reform der Sterbehilfe verständigen können. Sind Sie erleichtert?
Lewitzka: Ich bin tatsächlich erleichtert. Unterstützt hätte ich eher den Entwurf von Castellucci, aber der war auch nicht ideal. Am Ende bin ich froh, dass beide Entwürfe vom Tisch sind. Ich habe die inständige Hoffnung, dass man sich noch einmal Zeit nimmt und mit Fachleuten einen Entwurf auf den Weg bringt, der auch der Vielfalt des Themas gerecht wird. Wir müssen vor allem die Menschen schützen, die nur vorübergehend betroffen sind oder die aus sozialen Gründen sagen, sie wollen nicht mehr leben.
Das Parlament: Würden Sie sagen, der Bundestag muss sich weiter um eine Neuregelung der Sterbehilfe bemühen oder kann alles bleiben, wie es jetzt ist?
Lewitzka: Wir brauchen eine Regelung, weil die Suizidassistenz ja schon stattfindet. Und es ist leider so, dass es auch einige hanebüchene Fälle gibt, die wir weder für uns noch für uns nahestehende Menschen haben wollen. Eine Regelung, mit deren Hilfe der Prozess überwacht werden kann, muss es geben. Was wir jetzt brauchen könnten, wäre eine Regierungskommission zur Erarbeitung eines Konzepts der Suizidhilfe und eines Suizidpräventionsgesetzes.
Das Parlament: Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 das 2015 erlassene Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt. Wie kann das geforderte Schutzkonzept des Staates geltend gemacht werden?
Lewitzka: Das ist schwer, weil wir über ganz unterschiedliche Menschen sprechen. Wenn es um einen sterbenskranken Patienten geht, der nur noch wenige Wochen zu leben hat, wäre die Auffassung der Mehrheit vermutlich, dass die Möglichkeit der Suizidhilfe gewährt werden sollte. Oder geht es um einen Menschen in einer Lebenskrise oder mit einer schweren Depression?
Wir brauchen eine Regelung mit unterschiedlichen Fristen und Zugängen zu den Betroffenen. Wir müssen hinter die Motive schauen. Geht es vielleicht um die Angst, in ein Pflegeheim zu müssen oder spielt Einsamkeit eine Rolle. Da geht es nicht um Suizidhilfe, sondern um Beratung von Menschen in suizidalen Krisen.
Das Parlament: Das gängige Mittel für die Selbsttötung ist Natrium-Pentobarbital. Haben Sterbewillige überhaupt eine Chance, an dieses Medikament heranzukommen?
Lewitzka: Dafür sorgen die Sterbehilfeorganisationen. Das kostet nach meiner Kenntnis im Schnitt zwischen 4.000 und 9.000 Euro, dann werden die Prozesse in Gang gesetzt. Es gibt auch Ärzte, die sich daran beteiligen. Die Organisationen haben ihre eigenen Strukturen aufgebaut und verfahren danach. Die Sterbehilfeorganisationen besorgen den Menschen dann entweder Natrium-Pentobarbital oder andere Substanzen, die genutzt werden.
Das Parlament: Sie fordern Suizidprävention vor Sterbehilfe. Warum?
Lewitzka: Wenn Suizidhilfe einer breiten Masse der Bevölkerung zur Verfügung gestellt wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Methode auch genutzt wird. Die wirksamste Möglichkeit, suizidpräventiv zu handeln, ist also eine Methodenrestriktion. Das Gegengewicht zur Suizidhilfe ist der Ausbau niedrigschwelliger Beratungsangebote und eine bessere Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das muss vor der Suizidhilfe geregelt werden.
Das Parlament: Was treibt Menschen in den Suizid?
Lewitzka: Ich habe beruflich mit psychisch kranken Patienten zu tun, ich kenne aber auch Menschen, die „nur“ in einer Lebenskrise stecken. Jeder, der schon einmal eine schwere Lebenskrise durchgemacht hat, weiß, dass auch Sinnfragen dahinter stehen können und das Gefühl, so nicht mehr weiter leben zu wollen. Es sind viele Faktoren, die Menschen in den Suizid treiben, darunter soziale Krisen, finanzielle Nöte und, als stärkster Risikofaktor, eine psychische Erkrankung. Diese Faktoren lassen sich aber beeinflussen, und da ist die Gesellschaft gut beraten, den Cocktail nicht leichtgängig zur Verfügung zu stellen.
Das Parlament: Welche Erkrankungen sind das?
Lewitzka: Depressionen gehören natürlich dazu, aber auch Abhängigkeitserkrankungen, etwa Alkoholsucht, führen zu einem höheren Risiko. Junge Menschen mit Psychosen, zum Beispiel Schizophrenie, zählen ebenfalls zu den Patienten mit einem deutlich erhöhten Suizidrisiko. Menschen können auch mehrere psychische Erkrankungen haben, zum Beispiel eine Depression und eine Angststörung.
Das Parlament: Welche Altersgruppe oder welches Geschlecht ist besonders betroffen?
Lewitzka: Es nehmen sich ein Drittel mehr Männer als Frauen das Leben, das Risiko steigt bei Frauen und Männern mit zunehmendem Lebensalter. Wir sehen zwischen 50 und 60 Jahren die meisten Suizide, auf der anderen Seite ist in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen der Suizid die zweithäufigste Todesursache. Es betrifft also die ganze Lebensspanne.
Das Parlament: Begleitend zur Reform von 2015 sollte die Hospiz- und Palliativversorgung gestärkt werden, ist das nach Ihrer Einschätzung gelungen?
Lewitzka: Es ist seither viel auf den Weg gebracht worden, aber wir dürfen jetzt nicht stehen bleiben. Die Hospizversorgung muss weiter ausgebaut werden, weil es Regionen ohne Hospizangebote gibt. Es müssen in der Palliativmedizin außerdem Strukturen aufgebaut werden, die es den Menschen ermöglichen, zu Hause zu sterben. Auch die Trauerbegleitung muss ausgebaut werden. Wir sind noch lange nicht da, wo wir sein müssten, um alten und kranken Menschen das Gefühl zu geben, an einem Ort gut sterben zu können und die deswegen die Suizidassistenz nicht in Anspruch nehmen.
Das Parlament: Wie verträgt sich eine Demenz mit dem Wunsch nach Sterbehilfe?
Lewitzka: In anderen Ländern ist die sogenannte vorausschauende Verfügung legalisiert worden, das hat erschreckend zunehmende Zahlen gebracht. Wenn Menschen dement sind, entscheidet dann ein anderer über die Suizidassistenz. Das ist eine Grenze, die ich schwer aushalten kann. Auch angesichts unserer Geschichte sollten wir in Deutschland einen anderen Weg gehen.
Das Parlament: Wie gehen Mediziner mit der Verantwortung für Sterbehilfe um?
Lewitzka: Ganz unterschiedlich. Viele Ärzte sagen in Umfragen, es ist in Ordnung, dass es die Suizidassistenz gibt, deutlich weniger Ärzte würden sich daran beteiligen. Wir müssten als Mediziner viel besser ausgebildet werden im Umgang mit Sterbewünschen. Manchmal wird die Hochleistungsmedizin weitergeführt, obwohl es keinen Sinn mehr macht. Wir müssen als Ärzte aushalten, dass ein Patient sterben will.
Das Parlament: Lange hatten Ärzte große Angst vor Strafverfolgung im Kontext der Suizidhilfe. Ist die Angst nach dem Karlsruher Urteil verflogen?
Lewitzka: Ich glaube, die Ärzte sind jetzt etwas entspannter. Bei vielen Medizinern steht aber immer noch ein Fragezeichen hinter der Suizidassistenz. Es gibt allerdings auch Ärzte, die den Eindruck erwecken, sie könnten über Leben und Tod entscheiden. Das finde ich ganz schwierig. Wir wissen aus Ländern, wo die sogenannte Euthanasie in Kliniken üblich ist, viel zu wenig, was das mit dem Pflegepersonal und den Ärzten macht.
Das Parlament: Welchen Rat geben Sie Menschen, die Ihnen sagen, dass Sie sterben wollen?
Lewitzka: Ich nehme diese Menschen mit ihrem Sterbewunsch erst einmal an, um vorurteilsfrei mit ihnen in Kontakt zu kommen. Die Gründe können so unterschiedlich sein, vom hochbetagten Mann, der nicht ins Altenheim will, bis hin zur jungen Frau, deren Beziehung gerade kaputt gegangen ist. Ich lade die Menschen ein, sich ihre Motive genau anzuschauen und werbe dafür, sich Zeit zu nehmen, um die Entscheidung zu durchdenken. Meine Patienten sind am Ende eines Heilungsprozesses oft froh, dass sie nicht den Weg des Suizids gegangen sind.
(Das Gespräch führte Claus Peter Kosfeld)