Die Natur als
Co-Therapeutin

Johannes Vennen therapiert gern unter freiem Himmel. Foto Göttsche

Nichts wie raus: die Natur als Türöffner zur Patientenseele. Der Rendsburger Psychotherapeut Johannes Vennen bietet seinen Klienten neben dem herkömmlichen Therapiesetting in der Praxis auch Outdoor-Beratungseinheiten an – Wasser, Wald und Wiese bergen im Zusammenspiel mit körperlicher Bewegung therapeutische Zusatzressourcen, die er nutzen will. Wie, das erklärte er dem EPPENDORFER im Rahmen eines Interviews. Es fand natürlich inmitten der Natur statt …

EPPENDORFER: Was ist das Besondere an Waldspaziergängen?

JOHANNES VENNEN: Die reine Luft, das veränderte Binnenklima, die Atmosphäre überhaupt. Die beruhigende Wirkung auf den Menschen steigt innerhalb der ersten fünf Minuten am stärksten an. Stresshormone bauen sich nachweislich ab: Der Cortisolspiegel sinkt, die Stimmung hebt sich.

EPPENDORFER: Muss es für den therapeutischen Spaziergang immer Wald pur sein?

VENNEN: Nein, ideal ist eine Mischung aus Wald und Wasser. Ich suche immer die Nähe zu Gewässern. Ob ein Kanal, ein See oder ein Teich, sie verstärken die Effekte. Diese Erkenntnis englischer Forscher kann ich bestätigen.

EPPENDORFER: Wie unterscheiden sich In- und Outdoor-Beratung?

VENNEN: Draußen sind die therapeutischen Effekte nicht unbedingt größer, aber sie wirken anders. Qualitativ fühlen sich die Klienten nach einem Gang durch die Natur besser, selbst bei schlechtem Wetter. Eine unter Depressionen leidende Klientin kommentierte den Regen mit einem deprimierten „Scheißwetter“, aber ging trotzdem los. Was nebenbei auch ihre Selbstwirksamkeit und ihr Selbstwertgefühl stärkte, weil sie sich den Gang zugetraut und ihn schließlich geschafft hatte.

EPPENDORFER: Apropos Wetter: Mussten Sie bereits Outdoor-Beratungseinheiten absagen?

VENNEN: Bei zuviel Sturm, Schnee, Eis und Glätte kann es vorkommen. Dauerregen wiederum ist per se kein Hinderungsgrund. 

EPPENDORFER: Was ist das kommunikativ-therapeutisch Spezifische am Draußen sein? Was hat der Wald, das die Couch nicht hat?

VENNEN: Das Interventionspotenzial beim Gang durch die Natur ist größer und liefert eine Fülle spontaner Anknüpfungspunkte. Ein Patient, Unternehmer und Hobbyjäger, merkte bei einem Eichelhäherruf auf. Ich registrierte es und fragte ihn, was er mit diesem Laut verbinde. „Das ist der Polizist des Waldes“, antwortete er. Das Gespräch brachte unter anderem die Erkenntnis, dass er sozusagen den Polizisten in sich selbst stärken wollte, also seinen Betrieb besser unter Kontrolle bringen.

EPPENDORFER: Die Natur als Interpretationen liefernder Assoziationsraum?

VENNEN: Ich sehe die Natur gewissermaßen als Co-Therapeutin, mit deren Ressourcen ich arbeiten kann. Meine Aufgabe lässt sich als eine Form therapeutischer Dechiffrierarbeit sehen. Weiteres Beispiel: Eine Patientin bemerkte eine Blindschleiche, die sie zunächst für eine Schlange hielt. Wir sprachen darüber, was sie mit dem Reptil assoziiere. Beim nächsten Treffen sagte sie mir: „Ich glaube, ich muss mich häuten. Mein Leben passt nicht mehr zu mir.“ Auf diese Erkenntnis ließ sie bald Taten folgen. Sie kündigte, krempelte ihr Leben um. Natur ist sowohl stimulierende Kulisse und zugleich ein Schlüssel, der es den Patienten leichter macht, sich zu öffnen und über die Therapie zu sich selbst zu finden. 

EPPENDORFER: Welche Krankheitsbilder und Störungen dominieren?

VENNEN: Angststörungen und Depressionen sind am häufigsten. Wobei Depressionen sich bei Männern oft in aggressiver Form bis hin zu Verhal-

tensexzessen äußern. Viele Patienten kommen zu mir mit der oft selbstgestellten Diagnose Burnout, meist 

handelt es sich aber um eine Erschöpfungsdepression.

EPPENDORFER: Beratung im Wald ist noch eine therapeutische Nische. Wie sind Sie dazu gekommen?

VENNEN: Ich selbst bin Naturliebhaber, kann draußen wunderbar auftanken. Hinzu kommt meine Erfahrung aus der Männertherapie: Beruflich sitzen die meisten Männer tagsüber, und das am Schreibtisch drinnen. Gehen sie zur klassischen Therapie, sitzen sie wieder drinnen. Das kann es nicht sein, dachte ich mir. Also fing ich 2015 mit der Outdoorberatung an. Die Nachfrage ist da.

EPPENDORFER: Muss man sich für eine Expedition ausrüsten, um mit Ihnen in den Wald zu gehen?

VENNEN: Nein. Festes handelsübliches Schuhwerk ist sehr wichtig, dazu je nach Jahreszeit robust-regenabweisende oder lockere Kleidung, Mütze oder Sonnenhut. Und: Hände weg von Haargel und geruchsstarkem Deo! Das sind Magneten für Insekten. Ferner weise ich die Patienten auf ihr Ausscheidungsmanagement hin. Also vorher zur Toilette gehen. Die meisten haben für die Dauer eines Therapie-Gangs kein Problem, ansonsten: Es gibt ja genügend Büsche unterwegs. 

  Interview: Michael Göttsche