Alternativen
zum Zwang

Der Werdenfelsener Weg führt weg von Zwang und Freiheitsbeschränkung. Foto: Werdenfelser Weg GbR

2007 initiierte Dr. Sebastian Kirsch, Richter am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen, den „Werdenfelser Weg“. Ziel: die Vermeidung der Freiheitsbeschränkung alter, kranker oder behinderter Menschen durch Gurtfixierungen, Bettgitter und Vorsatztische. Dafür wird ein Verfahrenspfleger beauftragt, innerhalb von sechs Wochen kritisch die Situation vor Ort zu überprüfen und dort Alternativen wie Niedrigflurbetten, Bewegungsmelder und Antirutschmatten einzubringen. Angestrebt wird eine einvernehmliche Einschätzung, die dann in die gerichtliche Entscheidung einfließt. Der Werdenfelser Weg (WWe) wird mittlerweile in über 200 Gerichtsbezirken bzw. Landkreisen umgesetzt (Stand Januar 2019). Beim zehnten Fachtag Werdenfelser Weg wurde – natürlich online – Bilanz gezogen und die Frage von Gewalt und Zwang in der Pflege vor dem Hintergrund von Corona diskutiert (siehe Bericht in der Printausgabe 5/20). Ferner wurde – wie im folgenden dargestellt – über aktuelle Studien und den Umgang mit Psychopharmaka gesprochen. 

Dr. Andre Brasseler, Oberarzt des Gerontopsychiatrischen Zentrums am BKH Kaufbeuren, berichtete über die Auswirkungen des Werdenfelser Weges auf die pflegenden Personen. Er stellte dazu eine Studie an der TU Chemnitz vor, die klären wollte, ob für die pflegenden Menschen durch eine Reduktion der freiheitseinschränkenden Maßnahmen (FEM) eine Verbesserung eingetreten sei. Hierzu wurden Experten unterschiedlicher Fachbereiche, die nach den Grundsätzen des Werdenfelser Weges geschult sind (Pflege, Betreuer, Verfahrenspfleger, Juristen), befragt. Resultate: Die Befragten erachteten die Würde des dementen Menschen wichtiger als das Sicherheitsdenken. 

Als positive Auswirkungen des WWe auf das Pflegepersonal wurden genannt: weniger Schuldgefühle, mehr Arbeitszufriedenheit, bessere Stimmung, weniger Spannungen, Überforderungsgefühle, Ängste und Stress, weniger Konflikte mit Angehörigen und weniger psychosomatische Beschwerden. Auf der Negativseite standen mehr Sorgen um die Sicherheit der zu Pflegenden, mehr Probleme mit Angehörigen, eine Zunahme der erforderlichen Überwachung und teilweise auch mehr Stress und Überforderung. Stress kann also sowohl bei der Fixierung und Überwachung entstehen als auch bei der Vermeidung von FEM, weil alternative Maßnahmen sehr aufwändig für das Pflegepersonal werden. Hier befinde sich die Mehrheit in einem Dilemma, so Brasseler, die Problematik des Personalmangels könne hier die Umsetzung von neuen Ansätzen nach dem WWe behindern. Die Situation der Pflegenden habe sich aber durch den WWe gebessert, waren sich die Experten einig, sowohl das Abteilungsmilieu als auch die Befindlichkeit der Pflegenden hätten vom Konzept des WWe eindeutig profitiert.

Apropos Isolierung durch Sedierung und Medikation, die der Freiheitsentziehung dient: Gerhard Stadler; Krankenpfleger für Psychiatrie, Bezirkskliniken Schwaben, monierte, das unzweifelhaft der Einsatz von Psychopharmaka in den Pflegeheimen sehr hoch sei. 43 Prozent der Bewohner mit Demenz erhielten dauerhaft mindestens ein Neuroleptikum. In Schweden seien es z. B. nur 12 Prozent. Ein dauerhafter Einsatz verstoße aber gegen die Leitlinien. Bei der Obduktion von 98 Altenheimbewohnern kam die Rechtsmedizinerin Dr. Sabine Gleich zu folgenden Ergebnissen: 47,4 Prozent bekamen Antipsychotika, 30,5 Prozent Antidepressiva, 28,4 Prozent Opioidanalgetika und 22,1 Prozent Hypnotika/Sedativa. Auffällig: die häufig gleichzeitige Einnahme zentral wirksamer Substanzen, was nicht den Leitlinien der Fachgesellschaften entspreche. 

Stadler kritisierte, das sinnvolle Maßnahmen wie aktivierende Pflege zum Erhalt von Alltagsmaßnahmen nur wenig genutzt würden. Es sei besser, bei Unruhe den Dementen das Laufen zu ermöglichen anstatt sie medikamentös ruhigzustellen. Die höhere Sterblichkeit und Nebenwirkungen durch Neuroleptika wie Schwierigkeiten beim Essen (Schluckmuskulatur), Gangstörungen und kognitive Veränderungen seien nachgewiesen. Pflegende sollten den Grund für Unruhe suchen und Medikamente wenigstens reduzieren. Stadler: „Gebt uns mehr Pfleger, dann brauchen wir weniger Haldol.“ Und Rolf Hirsch ergänzte: „Neuroleptika darf man nur geben, wenn jemand wahnhaft ist. Ein alter Mensch darf ruhig unruhig sein. Medikamente wirken auf die Kognition und die Menschen sterben schneller. Mich macht das wütend.“

Die Diplom-Psychogerontologin Sabine Tschainer beschloss die Tagung schließlich mit einem Appell an die Pflegenden, die Rechte der Betreuten und auf sich selber zu achten. Die Pflegenden brauchten in einer Zeit der Arbeitsverdichtung und des wachsenden Druckes realistische Ziele. Realistisch sei z.B. die Schaffung von Wohlfühlinseln („Erfolg: Der Patient hat zehn Minuten nicht geschrien“!). Man müsse es aushalten, nur Wohlfühlinseln schaffen zu können und es sei schwierig, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Wut und Traurigkeit auszuhalten. Deshalb ihr Rat an die Pflegenden: „Nehmen Sie Rücksicht auf sich selber, machen Sie sich bewusst, was Sie leisten. Geben Sie sich respektvolle Anerkennung, entwickeln sie eine Akzeptanz der eigenen Fehlbarkeit.“  Michael Freitag