Das Urteil und die Folgen

Mit Verwendung einer Handhalterung wie dieser soll verhindert werden, dass sich die Patienten selbst oder andere Personen verletzen. Foto: SEGUFIX

Da kommt einiges auf die Psychiatrie und die Justiz zu: Das  Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli, nach dem auch in der geschlossenen Psychiatrie jede längere Fixierung von einem Richter genehmigt werden muss, führt vor allem zu höherem Personalbedarf. Insgesamt wurde die Entscheidung des Zweiten Senats unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle allseits begrüßt. Ein komplettes Verbot der Fixierung hatte indes vorab der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener gefordert.

Die Fixierung eines Patienten sei ein Eingriff in dessen Grundrecht auf Freiheit der Person nach Artikel 104 des Grundgesetzes, sagte der Vorsitzende des Zweiten Senats, Andreas Voßkuhle.  Sie sei nur als letztes Mittel zulässig.  Nur von einem Arzt angeordnet werden dürfen künftig nur Fixierungen, die weniger als eine halbe Stunde dauern. Sie könnten nur  „letztes Mittel“ sein und müssen ärztlich überwacht, durch Pfleger „eins zu eins“ betreut und streng dokumentiert werden. Betroffene müssen darüber informiert werden, dass sie solche Maßnahmen hinterher rechtlich überprüfen lassen können. Das alles bedeutet einen gewissen Mehraufwand für Klinken.

Deutlich aufwendiger wird es für die Justiz, wenn eine Fixierung länger als eine halbe Stunde dauert.Dann muss immer ein Richter eingeschaltet werden – sofort oder „unverzüglich“ später. Dafür müssen die Amtsgerichte einen täglichen  Bereitschaftsdienst von 6 bis 21 Uhr vorhalten, um spätestens am nächsten Morgen eine Fixierung rückwirkend genehmigen zu können. Dabei müssen Betroffene angehört, evt. auch Angehörige einbezogen werden. Insbesondere auf dem Land dürfte die Justiz vor großen Herausforderungen stehen, zumal sich die Richter auch mit Psychosen auskennen müssen, um Entscheidungen zu treffen.

Die meisten Bundesländer werden nun ihre Gesetze ändern müssen. Unmittelbar betroffen sind Bayern und Baden-Württemberg, von dort kamen die Klagen, die zu dem Urteil führen. Ein Münchener hatte sich beschwert, weil er stark angetrunken acht Stunden fixiert worden war, da Ärzte von Suizidgefahr ausgingen. Ferner ging es um einen Schizophrenie-Patienten aus Baden-Württemberg,  der immer wieder fixiert worden war, nachdem er mit Gegenständen nach Personal geworfen hatte.

Bayerns Justizminister Winfried Bausback (CSU) ging nach der Urteilsverkündung davon aus, dass das Anfang 2019 in Kraft tretende neue Bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzt die Karlsruher Vorgaben erfüllt, berichtete die Süddeutsche Zeitung. Einen Richtervorbehalt hätten ansonsten auch Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bereits jetzt im Gesetz. Das Gericht räumte den betroffenen Gesetzgebern zwar eine Frist bis zum 30. Juni 2019 ein  – doch die Einschränkungen der sogenannten 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierungen gelten ab sofort und in allen Bundesländern.

Der größte Fachverband, die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) begrüßte die Vorgaben: „Das ist ein sehrerfreuliches Urteil“, kommentiert DGPPN-Präsident Arno Deister. „Es kann nicht sein, dass in unserem Land aufgrund von Personalmangel und einer schlechten Infrastruktur nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden können, um auf Zwang zu verzichten. Dem muss sich auch eine moderne und aufgeschlossene Gesellschaft verpflichtet fühlen.“  Deister verwies zudem auf die zeitgleich mit dem Urteil veröffentlichte neue S3-Leitlinie zur „Verhinderung von Zwang“:  „Eine Reihe wissenschaftlich belegter Empfehlungen gibt hier allen in der psychiatrischen Versorgung Tätigen eine hilfreiche Orientierung.“

Zur Vermeidung von Zwang und Gewalt empfohlen werden u.a.:  eine quantitativ und qualitativ ausreichende Personalausstattung, Schulung in Deeskalationstechniken und Strategien im Umgang mit aggressivem Verhalten, Einsatz von Behandlungsvereinbarungen und Krisenplänen sowiegeeignete, hochwertige Architektur. Die Leitlinie wurde federführend von der DGPPN in Zusammenarbeit mit 22 Fachgesellschaften, Berufs-, Angehörigen- und Betroffenenverbänden in den letzten zweieinhalb Jahren erarbeitet und finanziert.

Download Leitlinie

Urteil vom 24. Juli 2018: 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16