Während des Zweiten Weltkrieges wurden sechs Millionen Juden ermordet. Drei Millionen starben in den Vernichtungslagern, doch zwei Millionen Menschen wurden bei systematischen Massenerschießungen getötet – ein „vergessener Holocaust“, wie es im Titel einer neuen ZDF-Dokumentation heißt. Autor Manfred Oldenburg zeichnet darin anhand von Originaldokumenten, Filmaufnahmen und Interviews mit Historikern und Sozialpsychologen nach, wie ganz normale Männer und Familienväter zu Massenmördern werden konnten. Ein erschütterndes Dokument der Zeitgeschichte, das zeigt: Es braucht nicht Überzeugungstäter, um Massenerschießungen durchzuführen. „Regime, die Völkermord begehen wollen, finden immer Menschen, die den Abzug drücken“, so der amerikanische Historiker Christopher Browning.
„Ganz normale Männer“ lautet der Titel der Dokumentation. Und so heißt auch das Buch von Browning, indem dieser die Massenmorde des Hamburger Reserve-Bataillons 101 aufarbeitete, rund 500 Mann, die 1942 nach Polen gebracht wurden, um hier im Rahmen eines Sonderauftrags jüdische Frauen, Männer und Kinder auf der Stelle zu erschießen. Wer sich dem nicht gewachsen fühle, könne sein Gewehr abgeben und eine andere Aufgabe erhalten, bietet ihnen der Kommandant an, doch nur rund 12 treten vor und vor der Aufgabe zurück. Unter den insgesamt über 130 Polizeibataillonen zeichnet sich Hamburg letztlich durch die vierthöchste Mordrate aus. Wie kann es soweit kommen?
Mitleid für die Täter, nicht für die Opfer
In Gruppensituationen mit gleichen Leuten umgeben, die sie ausgrenzen können, sei ein hohes Maß an Ich-Stärke nötig, um das auszuhalten, erklärt Sozialpsychologe Harald Welzer in der Dokumentation. Einige übergaben sich nach dem ersten Massaker, und 1941 wiesen SS-Führer auf seelische Belastung hin – es gab Mitleid für die Täter, nicht für die Opfer. Die Rechtfertigung der Tat wurde nicht angezweifelt. Auch wenn die Mehrheit keine überzeugten Nazis und auch keine Soldaten waren, sondern eben Reserve – Bäcker, Schreiner, Kaufleute. Sie passten sich an. Kameradschaftsabende und Kulturveranstaltungen sollten sie entlasten. Und mit der Zeit wurde der Mord immer selbstverständlicher.
Die Täter selbst wollten mit sich im Reinen sein. Zitat eines Täters: „Ich habe mich … bemüht, nur Kinder zu erschießen. Mein Nachbar erschoss dann die Mutter und ich das dazugehörige Kind, weil ich mir aus bestimmten Gründen sagte, dass das Kind ohne Mutter doch mich mehr leben könnte.“ Sie legten Befehle so aus, erklärt es Prof. Harald Welzer, dass sie selbst damit umgehen konnten und als moralisch gut dastehen konnten. Im Hintergrund stand kein „blinder Gehorsam“, betonen die Wissenschaftler. Historiker Browning unterscheidet die Täter in drei Gruppen: Solche, die Spaß am morden fanden, brutale sadistische Mörder. Ferner die „Fügsamen“, die den Befehlen folgten und schließlich die wenigen Verweigerer, die sich rückversetzen lassen – das aber aus persönlichen Gründen, nicht aus erklärtem Widerstand.
60 000 Polizisten an Massenerschießungen beteiligt
Die Angehörigen des Hamburger Reservebataillons waren an der Erschießung von 38 000 Juden beteiligt. Insgesamt seien 60 000 Polizisten im Krieg an Massenerschießungen beteiligt gewesen. Gegen 172 000 Männer – darunter SS Gestapo und Polizei -sei später ermittelt worden. Nichtmal 500 seien für ihre Beteiligung am Genozid verurteilt worden, listet der Film auf. Von den Mitgliedern des Hamburger Bataillons seien nur 14 angeklagt und nur zwei inhaftiert worden.
Einer, der sich die Aufarbeitung dieser Gräuel zur Lebensaufgabe gemacht hat ist der amerikanische Jurist Benjamin Ferencz, inzwischen 101 Jahre alt, der in Nürnberg Chefankläger gegen führende Mitglieder der sogenannten Einsatzgruppen war. Ein aktuelles, ausführliches Interview mit dem Jura-Professor bildet einen Leitfaden der eindrücklichen Dokumentation, die ab sofort für fünf Jahre hier in der ZDF-Mediathek verfügbar ist. (A. Hinrichs)
Lesen Sie hier einen weiteren Bericht zum Themenkomplex über „Gefühlserbschaften” des Nationalsozialismus.