Aby Warburg hat bis heute gültige Maßstäbe in der Kulturwissenschaft gesetzt. Er ist einer der berühmtesten Forscher mit eigener Psychoseerfahrung, der auch nach seiner Erkrankung bedeutsame Werke schuf und nach eigener Auffassung durch seine Arbeit wieder gesund geworden ist.
Sechs Jahre in der Psychiatrie
Nachdem Aby Warburg im November 1918 gedroht hatte, seine Familie und sich selbst zu erschießen, musste er sich behandeln lassen – zunächst in Hamburg und Jena, dann drei Jahre lang in der Kreuzlinger Privatklinik des Psychiaters Ludwig Binswanger. Diagnose: Schizophrenie. Paranoide Vorstellungen treiben Warburg um, etwa Ängste vor bestimmten Mahlzeiten. „Beispielsweise hielt er Wirsingkohl für das Hirn seines Bruders“, so Elena Demke.
Die Berliner Historikerin referierte an der Universität Hamburg im Rahmen der Ringvorlesung zur Anthropologischen Psychiatrie „Wie gesund ist krank?“ unter dem Titel „Wissenschaft als Heilung“ über Aby Warburg. Der 1866 geborene Spross einer hanseatischen Bankiersfamilie gilt als einer der bedeutendsten Kulturwissenschaftler Deutschlands. Auf ihn geht unter anderem die Ikonologie als Wissenschaftsmethode zurück – ein interdisziplinärer Ansatz, der als Zeichensprache der Bilder auch die zeitgenössischen Verhältnisse mit einfließen lässt. Warburg war schon früh bildungshungrig und lesefreudig: Als 13-Jähriger soll er seinem jüngeren Bruder Max das Erstgeborenenrecht abgetreten haben – für die Zusage, dass dieser ihm zeitlebens von ihm gewünschte Bücher kaufen würde. Dies sollte der Grundstein für die später berühmt gewordene Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg sein, die er 1926 begründete.
Astrologie als Forschungsgegenstand entdeckt
Als Wissenschaftler widmete sich Aby Warburg einem breiten Forschungsspektrum. „So war er der erste, der die Astrologie als Forschungsgegenstand entdeckte“, sagte Elena Demke. Darüber hinaus standen die italienische Renaissance und die Kultur der nordamerikanischen Hopi-Indianer in seinem Forschungsfokus. Sein Interesse an den Indianern geht auf eine Amerika-Reise zurück, die er 1895 unternommen hatte – und sollte später zum Schlüssel seiner Heilung werden.
Die Kreuzlinger Klinik stand im Ruf einer sehr fortschrittlichen Einrichtung. Warburgs begüterter familiärer Hintergrund ermöglichte ihm die lange und privilegierte psychiatrische Behandlung. Zwischen ihm und Binswanger entwickelte sich im Lauf der Zeit auch eine Freundschaft. „Allerdings hatte Aby Warburg eine andere Krankheitseinsicht als seine Ärzte“, sagte Elena Demke. „Er erlebte seine Einweisung nicht als Patient, sondern als Gefangener – worin die Ärzte wiederum nur eine weitere Bestätigung seines Wahns sahen.“
Warburgs Kritik weise viele Parallelen zur von heutigen Psychiatrieerfahrenen geäußerten Kritik auf. Die von Binswanger formulierte Schizophrenie-Diagnose wurde später vom Psychiater Emil Kraepelin zum „manisch-depressiven Mischzustand“ umgedeutet, was eine bessere Genesungsprognose erlaubte.
Zwangsvorstellungen kreisten auch um das Essen
Warburgs paranoide Fantasien und Zwangsvorstellungen kreisten auch um das Essen: Kartoffeln hielt er für die Köpfe seiner Kinder. „Diese Ängste allerdings wurden von den Ärzten als skurril bewertet“, so Elena Demke, sie kommunizierten nicht angemessen mit ihm. Warburg stellte sich dann darauf ein, mit seinen Beschwerden nicht ernst genommen zu werden. Zugleich habe Warburg gelernt, sich anzupassen, indem er beispielsweise dem medizinischen Personal geschmeichelt habe, um dringlich gewünschte Arbeitsmöglichkeiten zu bekommen.
Warburg begann in dieser Zeit, seine Beobachtungen der Hopi auszuarbeiten – im Mittelpunkt stand deren Schlangenritual. 1923 hielt er in Kreuzlingen einen mehrstündigen, legendären Vortrag, der sich im Kern um das Entstehen der Symbolbildung um das Schlangenritual drehte und das Publikum mit mythischem Denken konfrontierte. Er deutete das indianische Ritual als symbolische Bannung von Urängsten. Es handele sich um weit mehr als naiv-magische Praktiken. „Indem der Mensch die Schlange beherrscht, beherrscht er auch die Natur – das wird im Ritual zur Realität“, so Elena Demke. „Im Ritual kann der Mensch, was er sonst nicht kann, deswegen ist es funktional.“ Das magische Denken sei für Warburg eine Form der Weltaneignung.
Magisches Denken als Form der Weltaneignung
Aus Warburgs eigener Sicht haben seine wissenschaftliche Arbeit um das das Ritual und der Vortrag selbst entscheidenden Einfluss auf seine eigene Heilung gehabt. Für ihn ist es „eine direkte Fortsetzung meiner in gesunden Tagen begonnenen Forschertätigkeit“. „Aber die Ärzte geben dem Vortrag nicht die Bedeutung, die er selbst ihm gibt“, so Elena Demke. Warburg zitiert Binswanger mit den Worten: „Dass Sie wissenschaftlich arbeiten, ist ja ganz schön. Aber erst werden Sie mal gesund!“ Warburgs Mitarbeiter Fritz Saxl notiert im September 1922 in seinem Tagebuch: „Diese Ärzte, die ihn heilen sollen, haben nie eine Zeile von ihm gelesen.“
Der – damals schriftlich nicht festgehaltene – Schlangenritual-Vortrag zählt zu den maßstabsetzenden Beiträgen für die moderne Ethnographie. 1924 ist Warburg aus Kreuzlingen „zur Normalität beurlaubt“ worden. Fünf Jahre Lebenszeit sollten ihm noch bleiben. Im Hamburger Philosophie-Professor Ernst Cassirer fand er einen Geistesfreund, beide pflegten einen intensiven Austausch. Warburg empfindet diesen Kontakt als „heilsame Freundschaft“. Gleichwohl nahmen die beiden im Diskurs, von dem heute nur noch einige Briefe vorhanden sind, keinen Bezug auf Warburgs Psychoseerfahrungen. „Die Wissenschaft stand im Zentrum“, so Elena Demke.
Wenige Monate nach Warburgs Tod organisiert sein Mitarbeiter Fritz Saxl den Transport der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg nach London, um sie vor der Bedrohung durch den heraufziehenden Nationalsozialismus zu retten. Dort hat die Bibliothek bis heute ihren Sitz. Michael Göttsche
(Aus: EPPENDORFER 3/19)