Von der Veddel in die Neue Welt

Millionen Menschen wanderten zwischen 1850 und 1939 über Hamburg in die Neue Welt aus. Nicht alle fanden jedoch ihr Glück. Die US-Behörden schickten jene zurück, die im Verdacht standen, „geisteskrank“ zu sein. Im UKE wurden im Rahmen eines Forschungsprojektes Akten über Auswanderer ausgewertet, die in der Irrenanstalt Friedrichsberg landeten.

Die aus Amerika zurückgeschickte Frau schrie, spukte und zerriss Kleidung. Bei der Untersuchung ihrer Zähne biss sie sogar einer Pflegerin in die Finger. Für den Irrenarzt ließ dieses Verhalten nur eine Diagnose zu: Dementia praecox – vorzeitige Demenz (veralteter Sammelbegriff für  „Geisteskrankheiten“ aus dem schizophrenen Formenkreis). Der Befund beendete für die Patientin das Kapitel Auswanderung, sie wurde kurz darauf in ihre polnische Heimat verfrachtet. Dass niemand die tobende Patientin verstehen konnte und sie in einem erstaunlich guten Allgemeinzustand war,spielte für den Befund offenbar keine Rolle.

 Auf Schicksale wie diesen stieß das Forscherteam um Prof. Dr. H e i n z – P e t e r Schmiedebach vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf durch einen „Kellerfund.“ Das UKE hatte Akten von der früheren„Irrenanstalt Friedrichsberg“ übernommen, die nun wieder auftauchten und ein Schlaglicht auf ein schillerndes Kapitel Hamburger Geschichte werfen: die Zeit der Mas- senauswanderung nach Amerika. 

1850-1939: Fünf Millionen Auswanderer

In Hamburg schifften sich zwischen 1850 und 1939 etwa fünf Millionen Menschen, vorwiegend aus Osteuropa, ein und brachen voller Hoffnungen in die Neue Welt auf. Nutznießer war die HAPAG (Hamburg-Amerikanische- Paketfahrt-Actien-Gesellschaft), die diesen Massenexodus, der in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg seinen Höhepunkt erreichte, zunehmend professioneller organisierte. Allerdings trug die Reederei auch ein gewisses Risiko, denn kranke Einwanderer wurden von den USA nicht ins Land gelassen und mussten auf Kosten der HAPAG zurücktransportiert werden.  Von   den  traurigen Schicksalen „geisteskranker“ Rückkehrer zeugen die 400 Akten aus den Jahren 1900 bis 1914, die im Rahmen des Projektes „Wahnsinn in Hamburg – psychische Devianz im Kontext kolonial-maritimer Urbanität“ ausgewertet wurden.

Sukzessive Verschärfung der Einwanderungsgesetze

Sukzessive verschärften die USA Anfang des 20. Jahrhunderts die Einwanderungsgesetze. 1907 wurden Menschen nicht mehr ins Land gelassen, wenn sie nur den Eindruck hinterließen, psychisch krank zu sein. Sogar bis drei Jahre nach der Einwanderung war eine Ausweisung möglich. Darauf, dass diese auch aufgrund von Missverständnissen oder nach Intrigen verfügt wurden, stieß Schmiedebach beim Aktenstudium.

„Spannend ist zu sehen, wie unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen zu fatalen Fehldiagnosen führten.“ So wurde eine Frau als geisteskrank zurückgeschickt,   weil  sie auf Ellis Island geschrien und getobt hatte. Erst in Hamburg stellte sich heraus: Während der Formalitäten war sie von ihrem Cousin beklaut worden, ihre Reaktion somit lediglich eine kulturell geprägte Eruption auf den Diebstahl. Nach zwei Tagen Aufenthalt in Friedrichsberg wurde sie ihre südeuropäische Heimat verbracht.

Anamnese durch Mitpatienten

Sprachschwierigkeiten waren ein weiteres Problem. Schmiedebach: „In 60 Prozent der Fälle waren die Ärzte nicht in der Lage, eine Anamnese zu stellen. In den seltensten Fällen stellte die HAPAG Dolmetscher zur Verfü-gung.“ So wurden Mitpatienten beauftragt, in Gesprächen etwas herauszubekommen und in ein eigenes Dokument zu schreiben, was dann der Krankenakte beigelegt wurde. In einem Fall, so Schmiedebach, erhob ein Patient eine 5- seitige Anamnese über einen anderen, in der es um unmoralisches Verhalten ging. Dies ging sogar so weit, dass dieser Mann, der keinerlei medizinische Vorbildung besaß, in einer Vorlesung sogar das Wort übernahm und den Fall des Patienten vorstellte.

80 Prozent der Akten betreffen Ausländer mit den bereits beschriebenen kulturell bedingten Missdeutungen und Sprachschwierigkeiten. Es sei aber auch schwer, im nach hinein Diagnosen zu deutschen Rückkehrern zu stellen, so Schmiedebach. Beispiel: der Fall eines Hausmädchens, das in Konflikt mit der Hausdame geriet. Diese entledigte sich des Mädchens, indem sie es in die Psychiatrie einweisen ließ. Ein Verdacht reichte damals schon für solche Einweisungen, und die USA hatten kein Interesse, sich intensiv mit den Menschen zu beschäftigen. Die Abschiebung war da bequemer und kostengünstiger. Die junge Frau wurde in Friedrichsberg übrigens als nicht krank eingestuft.

Dass das Auswandern aber auch krank machend sein konnte, ist für Schmiedebach keine Frage. „Der Verlust der alten Heimat, die Aufgabe von Beziehungen, das nicht Beherrschen fremder kultureller Muster – dass es da zu psychischen Auffälligkeiten kam, ist nicht verwunderlich.“ Der Begriff Geisteskrankheit sei aber zu sehr als Etikett benutzt worden. Den Begriff psychisch krank gab es damals nicht, es wurde wahlweise von Geisteskranken, Gemütskranken oder Irren gesprochen. „Ich denke, es waren auch Depressive unter den Rückkehrern.“

In den Akten finden sich auch Selbstzeugnisse, Berichte über Erfahrungen in den USA. Als schockierend wurden von den Rückkehrern die Existenznot mit der schlechten Jobsituation und die zu schwere Arbeit genannt. Auch die Sorge um Angehörige in Europa machte den Immigranten zu schaffen.  Michael Freitag

Ballin und der Massen-Exodus

Armut und Hunger, politische und religiöse Verfolgung – es gab viele Gründe, warum Menschen aus allen Teilen Europas nach Amerika auswandern wollten. Die Industrialisierung machte gerade Handwerker und Bauern zu Verlierern des technischen Fortschritts. Zwischen 1850 und 1939 wählten fünf Millionen Auswanderer Hamburg als Ausgangspunkt für die Fahrt nach Übersee. Albert Ballin, Generaldirektor der Hamburg-Amerikanische-Paketfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG), sah schon früh das Potential, das in dem Massen-Exodus für sein Unternehmen steckte.

Er ließ um die Wende zum 20. Jahrhundert auf der Veddel, einer Elbinsel, Massenunterkünfte für Tausende von Auswanderern errichten. Die „Ballinstadt“ wurde beständig erweitert, bis sie 1907 aus 30 Gebäuden auf 12,4 Morgen Land bestand. Die 190.000 Emigranten, die in jenem Jahr einer ungewissen Zukunft entgegen schipperten, betraten die Auswandererstadt durch eine repräsentative Empfangshalle und fanden neben Schlaf- und Wohnbaracken auch zwei bequemere Unterkünfte („Hotel Nord“ und „Hotel Süd“), eine große Speisehalle, Wasch- und Sanitäreinrichtungen, eine Synagoge und eine Kirche für die beiden christlichen Konfessionen sowie ein Verwaltungsgebäude vor. Ein Block beherbergte getrennte Küchen und Speiseräume für Juden und Christen. Bis zu 5000 Menschen konnten in den Gebäuden untergebracht werden. Eine faszinierende Welt, die so nur kurzzeitig bis zum Beginn des 1. Weltkriegs existierte. Verfall und Abrisse nach dem Zweiten Weltkrieg ließen von der Auswandererstadt fast nichts mehr übrig.

Für die Reederei war es von Interesse, dass die Auswanderung erfolgreich verlief, denn sie musste auf eigene Kosten die auf Ellis Island abgewiesenen Immigranten wieder nach Europa zurückbringen. Dementsprechend streng waren in der Ballinstadt die medizinischen Kontrollen. Die ansteckende Bindehautkrankheit Trachoma etwa schloss eine Überfahrt aus, der Blick in die Augen durch Ärzte bedeutete für viele Menschen bereits in Hamburg das Ende aller Hoffnungen auf ein neues Leben in Amerika. Die HAPAG konnte durch die gründlichen Untersuchungen die Abweisungsquote bei 3 Prozent halten. Weniger Einfluss hatte sie jedoch auf die Befragungsprozedur durch US-Be- hörden: Wer die Frage bejahte, Polygamist oder Anarchist zu sein, durfte wieder umkehren. Heikel war auch die Fangfrage, ob man bereitsArbeit gefunden habe, denn es war verboten, vor der Einreise einen Vertrag abzuschließen.

Inzwischen sind Teile der legendären Auswandererhallen wieder neu entstanden. Im Juli 2007 eröffnete die Ballin- Stadt als Museum: Port of Dreams – Auswandererwelt Hamburg. Drei Häuser wurden historisch genau rekonstruiert und in ihnen ein Forschungszentrum (Internet-Terminals für die Forschung nach Ahnen), die Hauptausstellung „Port Of Dreams“ und die Gastronomie untergebracht. Die Hauptaus- stellung ist als Rundgang konzipiert, in deren Mitte ein partieller Schiffsnachbau steht. Der Rundgang begleitet thematisch von der Auswanderung in Hamburg über die Schiffreise bis hin zur Ankunft in Amerika. Es werden Audio- und Videopräsentationen einge- setzt: Liebevoll gestaltete Puppen erzählen etwa von ihren Erlebnissen bei der Reise in die Neue Welt – und von ihren Beweggründen, ihren Sorgen und Nöten. (frg)

 

Originalveröffentlichung: EPPENDORFER 7/2008