Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch …

Viktor Staudt bei seiner Lesung in der Hildesheimer Dombibliothek. Foto: Kaehler / AMEOS

Was Viktor Staudt in den Suizid führte – und wie er diesen überlebte und trotz schwerer Behinderung endlich ins Leben fand …

2009 warf sich Robert Enke vor den Zug und starb. Er litt an Depressionen. So auch der Niederländer Viktor Staudt. Auch er suchte 1999 den Tod auf den Schienen. Und überlebte, schwer verletzt, ohne Beine. Es brauchte viele Jahre, bis Staudt den Weg zurück ins Leben fand, aber er hat ihn gefunden. Jetzt hofft er, dass er mit seiner Geschichte andere suizidgefährdete Menschen erreicht und ins Nachdenken bringt. Der 45-Jährige lebt heute in Italien und hält auch Vorträge und veranstaltet Workshops zum Thema Suizidprävention. Und er hat ein Buch über seine Lebens- und Krankengeschichte geschrieben. 

 

Der Junge ist acht Jahre alt, als die Lehrerin zu seiner Mutter sagt: „Viktor lacht nicht. Kann er überhaupt lachen?“ Zweiundzwanzig Jahre später wird er auf dem Bahnsteig des Amsterdamer Bahnhofs RIA „die weiße Linie überschreiten“ und in den Tod springen. Aber das Leben ist stärker als sein Wunsch zu sterben. Der Zug, vor den er stürzt, reißt ihm die Beine ab. Er überlebt.

„Die Geschichte meines Selbstmordes und wie ich das Leben wiederfand” 

Die Vor- und die Nachgeschichte wie auch den suizidalen Sprung selbst hat Viktor Staudt in einem Buch dokumentiert, in dem er uns mitnimmt auf die Reise durch sein bisheriges Leben. Beim Lesen des Titels „Die Geschichte meines Selbstmordes und wie ich das Leben wiederfand“ entsteht eine Spannung, die zum Buch greifen lässt. Wer einen solchen Titel findet, muss zum Leben gefunden haben. Und der Autor hat es gefunden, trotz allem: ein Leben, in dem er morgens aufwacht und sich auf seinen Kaffee freut, das Radio anschaltet und nicht damit beschäftigt ist, wie er seinem Dasein möglichst schnell und sicher ein Ende setzen kann. Wie ist ihm dies gelungen? Von einer so tiefen Todessehnsucht in einen so großen Lebenswillen hineinzufinden, der ihn in einem Interview sagen lässt: „Wenn nur EIN Leser durch mein Buch vom Suizid abgehalten wird, dann hat es sich schon gelohnt.“ Wie kostbar muss ihm dieses Leben geworden sein, für das er einen so unendlich hohen Preis gezahlt hat und immer noch zahlt?

Doch zurück zum Anfang: zum Beginn dieses Lebens, das über weit mehr als dreißig Jahre so unendlich traurig und hoffnungslos schien. Viktor Staudt ist kein ungeduldig fordernder Mensch. Schon als Kind und Jugendlicher ermuntert er sich selbst, redet sich quasi gut zu, dass auch sein Leben sich eines Tages zum Guten wenden werde, wenn erst … und es tröstet und beruhigt ihn immer wieder, diesen finalen Schritt „über die weiße Linie“ auf sicher in petto zu haben. Als letzten Ausweg aus einem Leben, das ihm nicht lebenswert erscheint, das scheinbar für alle anderen Menschen Sinn, Genuss und Freude bereit hält, nur eben für ihn, für Viktor, nicht. Viktor leidet an schweren Depressionen, an Gefühlen von Sinnlosigkeit, Trübnis, innerer Leere. „Es war, als würde ich in einem dunklen Loch versinken … Ich brauchte nicht einmal mehr die Augen zu schließen, denn alles um mich herum war ohnehin schon dunkel.“

Aber noch gibt er nicht auf. Noch gibt er sich und seinem Leben eine Chance. Er klammert sich an die Hoffnung auf eine gute Beziehung und glaubt, wenn er eine solche erst finde, werde auch er sich im Leben verbunden und aufgehoben und glücklich fühlen können.

Panische Angst vor Nähe

Die Depression ist nicht der einzige Feind, den es zu bekämpfen gilt. Indem er diesen Kampf aufnimmt und nach Kontakt und Beziehung sucht, wird er nun von quälender Angst überwältigt. Die panische Angst, die ihn erfasst, sobald er einem Menschen nahe kommt. Es ist, als würde er auf das Heilmittel, das er sich selbst verordnet hat und an das er glaubt, mit einer heftigen Unverträglichkeit reagieren. Er schafft es nicht, sich mit seiner Angst und Panik einem Gegenüber zuzumuten, und so flieht er jedes Mal zurück in seine depressive Einsamkeit. Dort ist es wenigstens sicher.

Die Angst führt auch dazu, dass er das Studium hinwirft, weil er nicht mehr in Hörsäle gehen kann. Einen Job in der Abfertigung am Flughafen schafft er nur mit Beruhigungsmitteln. Im Internet sucht und findet er in einem blog „suicide.holiday“ Kontakt mit anderen Leidensgenossen, die wie er des Lebens müde sind und deren Dasein ein täglicher Kampf ums ÜBER – leben ist, weil es in irgendeinem Seelenwinkel dann doch noch ein Fünkchen Hoffnung gibt. Es sind traurige virtuelle Begegnungen, aber zumindest fühlt er sich gesehen und verstanden. Eine Hilfe ist es nicht.

Arbeit als Callboy

Seiner Wut auf sein Leben, das ihm gemein und grausam erscheint, begegnet er, indem er als Callboy arbeitet. Die scheinbare Nähe zu den Kunden befriedigt ihn nicht, aber sie entlastet ihn, weil er die Begegnungen „in dieser bestimmten Jeans und diesem bestimmten T-Shirt und den eigens ausgesuchten Schuhen“ angstfrei erleben kann. Für eine kurze Zeit ohne Vorher und ohne Nachher entrinnt er der Ohnmacht; er gewinnt ein Stück Kontrolle und kann mit der Welt, die es so schlecht mit ihm meint, „buchstäblich abrechnen“. Sein Leben wird dadurch nicht heller.

Auch die professionellen Hilfsangebote, die Viktor durchaus sucht, helfen ihm nicht aus seiner Not. Da gibt es eine Hausärztin, die ihm ein Beruhigungsmittel verschreibt. Ja, er wird ruhiger, so ruhig, dass er seinen Fitnesssport, sein Schwimm- und Lauftraining nicht mehr schafft. Er macht einen therapeutischen Versuch bei einem Psychiater, der nicht einmal in der Lage ist, ein „Sorry“ über die Lippen zu bringen, als er einen Termin „verbaselt“ und diesen Fehler erst einmal seinem Patienten anhängt, um ihn schließlich mit einem lakonischen „Na ja, so was kommt vor“ abzuspeisen. Viktor mag – man kann es verstehen – dort nicht mehr hingehen. An einem Freitagnachmittag, im November 1999, entscheidet Viktor, dass es jetzt genug ist. Er ist grenzenlos erschöpft. Er will nicht mehr. Er kann nicht mehr.

Er überlebt – und kämpft weiter …

An einem Freitagnachmittag fährt er zum Bahnhof und wirft sich vor einen Intercity. Viktor verliert seine Beine, aber er überlebt. Und für ihn beginnt – wie er es nennt – nach dem „Zeitalter der Sinnlosigkeit“ nun „das Zeitalter der neuen Sinnlosigkeit“. Aber er kämpft weiter. Jahrelang. Gegen die heftigen Schmerzen in den Beinen, die er nicht mehr hat, gegen die Depression, gegen die Angst, gegen die ihn immer wieder überfallende Einsamkeit. Äußerlich lässt er sich wenig anmerken. Er betreibt einen Shop im Internet und erzählt anderen, er habe einen Motorradunfall gehabt. Er treibt viel Sport und erreicht durch diszipliniertes Training eine maximale Fitness und damit Autonomie, er ernährt sich gesund, er versucht, seine Schmerzmittel-Abhängigkeit in den Griff zu kriegen. Trotzdem – sein Leben bleibt ein Kampf gegen das tiefe Gefühl von Sinnlosigkeit, innerer Leere und Betrübnis.

Auch mehrere Klinik- bzw. Rehaaufenthalte liegen hinter ihm, eine Psychiatrie ist nicht darunter. Zwischen- zeitlich erhält er sogar die Diagnose Borderline-Störung, was ihm auch nicht weiterhilft. Irgendwann – wir schreiben das Jahr 2006 und der Sturz vor den Zug liegt sechs Jahre zurück – macht er noch einmal den Versuch, professionelle Hilfe zu finden und offenbart sich seiner Hausärztin, der er bisher nur von „einem Unfall“ berichtete. Sie begegnet ihm mit Empathie und Anerkennung, sie hört zu und ist vorsichtig und respektvoll in ihren Interventionen. Sie schlägt ihm vor, es neben psychotherapeutischen Gesprächen auch mit einem Medikament – einem Antidepressivum mit dem Wirkstoff Venlafaxin – zu versuchen. Er vertraut ihr und ist bereit, sich auf dieses Experiment einzulassen.

Einfach da sein, aufstehen, in den Himmel gucken …

Nach anfänglichen heftigen Nebenwirkungen geschieht nach vierzehn Tagen das, woran er – und inzwischen auch der Leser – kaum mehr glauben mag: Sein Leben wendet sich zum Guten. Er wird morgens wach – und zum ersten Mal seit langen langen Jahren will er leben. Einfach da sein, einfach aufstehen, in den Himmel gucken, Kaffee trinken und Radio hören. Endlich, endlich hat er es geschafft.

Das Buch von Viktor Staudt ist sehr lesenswert, weil er uns mit Hirn und Herz teilhaben lässt an seinem langen zermürbenden Lebenskampf, den er schließlich meistert. Das Buch wirft viele Fragen auf, über die wir, die Leserinnen und Leser, auch beklommen nachdenken: Warum ist dieses Kind, dieser Junge, dieser Mann so depressiv und so voller Angst? Worin gründen diese heftigen Symptome? In diesem Buch gibt es keinen Schuldigen – keine böse Mutter, keinen überstrengen Vater, keine traumatischen Erfahrungen. Die Traurigkeit, die Depression und diese unglaubliche Angst vor dem Leben bleiben ganz und gar bei ihm. Er hängt sie niemandem an. Und gerade das macht die Ohnmacht nur noch sicht- und spürbarer. Man fragt sich: Warum konnte es nicht eher eine Hilfestellung geben? Hat niemand gesehen, gemerkt, was mit diesem traurigen stotternden Kind, diesem von Angst gequälten Jugendlichen los war? Was ist los mit unserer Welt? Und doch schenkt uns dieser mutige Mensch Optimismus. Das Leben mag uns unendlich viel Schweres zumuten, aber in dem Maße, wie es dies tut, lässt es uns auch ungeahnte Kräfte entdecken. Hölderlin hat dies in der Hymne Patmos treffender formuliert:

Nah ist/Und schwer zu fassen der Gott/Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch/Im Finstern wohnen/Die Adler und furchtlos gehn/Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg/Auf leichtgebauten Brücken.

Martina de Ridder  / Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 10/2014

Viktor Staudt: „Die Geschichte meines Selbstmords und wie ich das Leben wiederfand“, Droemer, 254 S., 14,99 Euro, ISBN: 978-3-426-27645-7.

(Einen Bericht über eine eindrückliche Lesung von Viktor Staudt in Hildesheim lesen Sie im aktuellen EPPENDORFER 1/2019)