Am 29. Juli jährt sich der Todestag von Vincent van Gogh (1853 -1890) zum 130. Mal. Der psychisch kranke Künstler starb, mit nur 37 Jahren, auf der Höhe seines künstlerischen Schaffens, an den Folgen einer lebensgefährlichen Verletzung mit einem Revolver, die er sich zwei Tage zuvor zuzog. Wie kam es zu diesem fatalen Zwischenfall? War es ein Unfall, Suizidversuch oder gar Mordanschlag? Dazu gibt es verschiedene Theorien – aber nur eine offizielle.
Die offiziell geltende Version zu den Umständen seines Todes lautet in der van Gogh- Literatur so: Am Sonntag, den 27. Juli 1890, verließ van Gogh am späten Nachmittag den Gasthof der Familie Ravoux in Richtung der Weizenfelder, wie immer mit Staffelei und Malutensilien. Zudem soll er angeblich mit einem Revolver bewaffnet gewesen sein, mit dem er sich einige hundert Meter vom Gasthaus entfernt, hinter einem Düngerhaufen, offensichtlich in die Brust schoss und dabei ohnmächtig wurde.
Als er irgendwann zu sich kam, schleppte er sich zurück zum Gasthof und stieg schwerfällig die Treppe hinauf, um mit letzter Kraft in sein Bett zu fallen. „Er hielt sich den Bauch und hinkte irgendwie“, erinnerte sich später einer der Gäste. Als der Gastwirt ihn sah, rief er schnell den Arzt. Dr. Felix Mazery, der ihn als erster untersuchte, sah eine kleine Schusswunde unterhalb des Rippenbogens. Ferner stellte er fest, dass das Projektil nicht durchgegangen war sondern tief im Körper feststeckte und weder lebenswichtige Organe noch große Gefäße verletzt hatte. Van Gogh soll schmerzgequält geschrien haben: „Ist denn keiner da, der mir den Bauch aufschneidet?“
Leider konnten weder Mazery noch der kurze Zeit später eingetroffene Dr. Ferdinand Gachet dem Verwundeten helfen. Die Kugel war zu tief, als dass die Ärzte sie hätten entfernen können. Einen Transport in ein 30 Kilometer entferntes Krankenhaus in Paris stuften sie als zu gefährlich ein und so überließen sie ihn ohne medizinische Hilfe seinem Schicksal. Zwei Tage später starb er (höchst wahrscheinlich an Sepsis) in den Armen seines Bruders Theo.
Sehr rasch machten Gerüchte die Runde, dass der „Verrückte“ sich in einem Anfall von Wahnsinn umgebracht habe. Einem Gerücht zur Folge soll van Gogh auf die Frage eines Polizisten, ob er sich umbringen wolle, mit den Worten „Ich glaube schon, beschuldigt niemand anderen“ geantwortet haben. Diese Aussage ist allerdings nirgendwo aufgezeichnet. Ein weiteres Gerücht, van Gogh habe einen Abschiedsbrief hinterlassen, stellte sich als unwahr heraus. Maßgeblich an diesen Gerüchten war sein Malerkollege Émil Bernard beteiligt, obwohl der weder Zeuge des Tathergangs noch am Sterbebett des Künstlers zugegen war. Offenbar verleitete ihn die Vorgeschichte van Goghs mit dessen Depressionen und psychotischen Episoden zu dieser Annahme.
Doch schoss er wirklich auf sich selbst? Dieser Frage gingen die Publizisten Steven Naifeh und Gregory White Smith, beide Pulitzer-Preisträger, nach. Aufgrund sämtlicher Fakten und Indizien, die sie nach fast zehnjähriger Recherche zusammengetragen und 2011 in ihrem Buch „Van Gogh: The Life!“ (die deutsche Ausgabe erschien 2012 im Fischer Verlag unter dem Titel „Van Gogh: Sein Leben“) publiziert haben, gelangten beide zu dem Schluss, dass van Gogh den Schuss nicht selbst abfeuerte, sondern dieser von einem 16-jährigen Jungen namens René Secrétan kam, der ständig eine Waffe trug und in einem Cowboykostüm gerne mit ihr herumfuchtelte. Möglicherweise, so ihre Theorie, wurde van Gogh versehentlich angeschossen.
Bereits früher kursierten Gerüchte in Auvers um einen gewaltsamen Tod des Künstlers, die nicht ernst genommen wurden. So war bekannt, dass Jugendliche von Auvers den Maler immer wieder schikanierten und wütend gemacht haben sollen. Einer von ihnen war der Gymnasiast René Secrétan, sechzehnjähriger Sohn eines Apothekers in Paris, der sich mit seiner Familie im Sommerurlaub in Auvers aufhielt. René Secrétan soll mit dem Revolver des Gastwirts des Auberge Ravoux auf van Gogh geschossen haben. Der renommierte Kunsthistoriker John Rewald, der sich in den 1930er Jahren in Auvers aufhielt, befragte damals die Einheimischen, die solche Gerüchte bestätigt hätten. Viel später gab der bereits 82jährige René Secrétan in einem Interview 1957 an, dass er, sein Bruder Gaston (mit dem Van Gogh befreundet gewesen sein soll) und weitere Freunde den Künstler ständig geärgert und wütend gemacht hätten. Er gab auch zu, im Besitz einer Waffe gewesen zu sein, die er vom Wirt des Auberge Ravoux geliehen habe. Allerdings behauptete er, van Gogh habe wohl die Waffe irgendwann aus seinem Rucksack entwendet und an sich genommen.
Tatsächlich fanden Naifeh und Smith bei ihren Recherchen starke Indizien, die eine Fremdeinwirkung nahelegen könnten: Die Tatwaffe und seine Staffelei mitsamt den Malutensilien waren verschwunden. Alle Spuren am Tatort wurden noch in der Nacht gründlich beseitigt. Augenzeugen gab es nicht. Die ermittlungstechnische Arbeit war unzureichend. Eine Obduktion wurde nicht durchgeführt. Da die Kugel nicht entfernt wurde, fand auch keine ballistische Untersuchung statt. Sehr ungewöhnlich für einen Suizidvorhaben ist der Umstand, dass der Revolver nicht auf den Kopf, das Herz oder in den Mund, sondern gegen den Bauch gerichtet wurde. Zudem wurde der Schuss offenbar nicht aus der nächsten Nähe, sondern aus einer größeren Distanz in einem schrägen Winkel und nicht etwa in direktem Kontakt mit dem Körper abgefeuert. Gegen einen Nahschuss spricht überdies die Tatsache, dass von beiden Ärzten, die ihn untersuchten, keine Spuren vom Schießpulver an der Wunde, Schmauchspuren an Händen oder an der Kleidung entdeckt wurden.
Um ihre Ergebnisse wissenschaftlich untermauern zu lassen, gaben die Autoren 2013 ein Gutachten bei dem renommierten texanischen Gerichtsmediziner und Schusswaffen-Experten Vincent di Maio in Auftrag. Die Schlussfolgerung seiner Expertise lautet: „Aufgrund der Informationen, die mir zur Verfügung stehen, komme ich zu dem Schluss, dass die Wunde, die van Gogh erlitten hat, mit aller medizinischen Wahrscheinlichkeit nicht selbst zugefügt worden ist.“
Eine These, die die herrschende Meinung in der Kunstgeschichtsschreibung bis heute ablehnt. Insbesondere das van Gogh Museums in Amsterdam, das die Deutungshoheit über van Goghs Leben und Werken für sich in Anspruch nimmt, wehrt sich vehement dagegen undhält sich unbeirrt am Suizid fest. In einem Artikel, der im Juli 2013 im Burlington-Magazin veröffentlicht wurde, wiesen die Experten des Museums Louis van Tilborgh und Teio Meendendorp die Auffassung von Naife und Smith zurück und behaupteten: „ …aus der Perspektive, nämlich Van Goghs eigene Sicht seines Lebens, ist Selbstmord so viel plausibler als das zufällige Gezänk mit fatalen Folgen.“
Turhan Demirel