Von Robotern und Nacktmullen

Rund 140 Gäste lauschten den Ausführungen Fotos (3): Gesche Jäger

Rund um die Uhr einsatzfähig – und das für den Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde – das sind die Roboter, die Robozän, eine Personalvermittlung von humanoiden Robotern, anbietet. Sie wurde von dem Berliner Unternehmer Matthias Krinke gegründet. In anderen Digitalbereichen dringen internationale Firmen in den deutschen Sozial- und Gesundheitsmarkt. Vorneweg google. Das mit seiner Suchmaschine groß gewordene Unternehmen mischt über Tochtergesellschaften auch in Sachen Künstliche Intelligenz, Plattformen für soziale Dienstleistungen und Antiaging-Forschung ganz vorn mit.

Guter Dinge: Referent Helmut Kreidenweis und Sozialsenatorin Melanie Leonhard.

HAMBURG (hin). Wer hätte gewusst, dass sich schon 90 Prozent aller Labor-Nacktmulle – die extrem häßlichen Nagetiere sind wegen ihrer besonderen Schmerzunempfindlichkeit unter Forschern sehr beliebt – im Besitz der google-Tochter Calico befinden? Dieses und weitere Details aus der Welt des globalen digitalen Wandels – und inwieweit der Sozialbereich hier hinterherhinkt – erfuhren die Teilnehmer der Veranstaltung „Austausch mit Abendbrot“ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Zu dem Netzwerk-Treffen mit Schnittchen und Wein geladen hatte zum zweiten Mal das BHH Sozialkontor. Wobei: Der Träger von Hilfen für Menschen mit geistigen bzw. psychischen Beeinträchtigungen nennt sich ab sofort nur noch Sozialkontor, wie Geschäftsführer Kay Nernheim bekannt gab.

Menschen, die im Sozialbereich arbeiten, hätten diesen Beruf ergriffen, um mit Menschen zu arbeiten und so wenig wie möglich digital, griff eingangs Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) Vorbehalte auf. Um dann aber den digitalen Nutzen schmackhaft zu machen. So ermöglichten zugeschaltete Videodolmetscher sofortige Beratungsgespräche. Die Digitalisierung von Akten helfe, Wartezeiten und Anfahrtswege zu vermeiden: Es gehe vielleicht gar nicht um weniger Direktkontakt, sondern um bessere Hilfe, so Leonhard.

Was die Digitalisierung beinhaltet, wie sie sich schon jetzt auf den Sozialmarkt auswirkt, und wo die Sozialwirtschaft strategisch ansetzen sollte, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, erläuterte dann in einem flotten Vortrag Prof. Helmut Kreidenweis. Digitalisierung biete auch Teilhabe-Chancen, die für die Betroffenen nutzbar gemacht werden müssten. Der Experte für Sozialinformatik ist Vorstandsmitglied des Fachverbands für IT in der Sozialwirtschaft FINSOZ e.V. und Inhaber eines Beratungsunternehmens. Digitalisierung bedeute Vernetzung aller mit allem, so Kreidenweis. Sie sei „radikal, rasant und rigoros“. Alte Geschäftsmodelle verlören an Gültigkeit. Marktmacht entstehe durch den Besitz und die intelligente Nutzung von Informationen und Daten. Fremdanbieter kämen von außen und mischten ganze Branchen auf.

So sei google Capital mit 46 Millionen Euro bei Core.com (betreut.de) eingestiegen, weltweit größte Online-Plattform für Soziale Dienstleistungen wie auch Seniorenbetreuung (30 Millionen Mitglieder in über 20 Ländern). Weitere Aspekte der Digitalisierung: andere Menschenbildung über bewusst gesteuerte Filterblasen und autonome Datensammlung sowie Selbstoptimierung. 70 bis 80 Prozent des Börsenhandels würden von Computern gelenkt. Digitalisierung lasse sich nicht „weghoffen“, ermunterte Kreidenweis dazu, sich den Veränderungen zu stellen. Und zitierte den Ökonomen Peter F. Drucker: „Die größte Gefahr in der Veränderung ist nicht Veränderung an sich, sondern Handeln mit der Logik von gestern.“

Das Geschäftsleitungsteam vom Sozialkontor begrüßt Hanne Stiefvater.

Konkret sollten sich Einrichtungsvertreter u.a. folgende Fragen stellen: Passt sich die Webseite an mobile Endgeräte an? Können Interessenten über die Webseite freie Beratungstermine buchen? Können Klienten oder Angehörige über eine sichere APP mit Betreuern kommunizieren oder die Dokumentation einsehen? Stichwort Datenschutz, der Whats- app-Kommunikation verbiete: Er verstehe nicht, warum die Wohlfahrtsverbände nicht längst selbst „eine schicke Klienten-App“ gebaut hätten, so Kreidenweis. Überhaupt: Es brauche Prozessveränderungen. Wo sich Qualitätsmanagement bisher auf Zertifizierung beschränke, brauche es Freiräume für Innovation, Fehlerkultur und Scouts, die im Internet gezielt nach sinnvollen digitalen Innovationen suchen und systematisch den Markt beobachten.

Einrichtungen müssten aber auch Kurse und Webinare anbieten und über Hilfsmittel informieren. Seien die Chancen auf verbesserte Teilhabe im Zuge von Digitalisierung doch enorm und in der Lage, Definitionen von Alter und Behinderung zu verändern. Man denke an Exoskelette, die künftig Rollstühle überflüssig machen könnten, an Vorlesefunktionen, die Sehbehinderten zu Autonomie verhelfen, oder den Internet-Assistenten Alexa. Der könne in Zukunft doch einsamen alten Menschen auf Zuruf einen Spaziergang mit seinem Begleitroboter vorschlagen … Mehr über den Fachverband und dessen Forderung nach einer Novellierung des BTHG zwecks besserer Nutzung der Digitalisierung für die Teilhabe unter www.finsoz.de

 

(Originalveröffentlichung: EPPENDORFER 1/2019