Schmerz,
lass’ nach!

Frauen leiden häufiger an Migräne, Männer mehr an Clusterkopfschmerz. Foto: AOK/Jochen Tack

Schätzungen zufolge leiden in Europa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung chronisch an Schmerzen. Wie digitale Anwendungen dabei helfen können, Lücken der Versorgung zu schließen und welche Rolle soziale Unterstützung und das Geschlecht spielen, zählte zu den Schwerpunktthemen des diesjährigen Schmerzkongresses der Deutschen Schmerzgesellschaft und der Deutschen Kopf- und Migränegesellschaft (DMKG), der vom 18. bis 21. Oktober in Mannheim stattfand. 

„Schmerzen und deren Bewältigung hängen stark von der Anteilnahme ab, sei es durch die Anwesenheit vertrauter Personen oder durch einfache Gesten wie das Halten einer Hand“, erklärte Dr. Judith Kappesser, Psychologin an der Universität Gießen im Rahmen einer Kongress-Pressekonferenz. In Laborstudien wirkte es in Akutfällen teils schon schmerzlindernd, wenn der Partner die Hand hielt. Bei Kindern reichte schon ein Foto der Mutter. Die Kehrseite der hohen Bedeutung des Sozialen: Sind Angehörige und Freunde übermäßig besorgt, wirkt sich dies negativ auf das Schmerzerleben aus. 

Übermäßige Besorgnis wirkt sich negativ aus

Und die Reaktionen auf Hilfsangebote sind persönlichkeitsabhängig. So kann das Angebot, einer Schmerzgeplagten Haushaltstätigkeiten abzunehmen bei der einen Person zu Entlastung führen, bei der anderen als Kränkung ankommen („Wozu bin ich denn überhaupt noch gut?“). Nicht zuletzt Corona zeigte, wie belastend Isolation sein kann. Sie könne Schmerzen verschlimmern. Das wisse man „anekdotisch“, hieß es  – an Forschung mangelt es in dem Bereich.

Gerade Ärzte können als Gegenüber vieles falsch machen. Judith Kappesser, Psychologische Psychotherapeutin und  Schmerzpsychotherapeutin, berichtete von einer 40 Jahre alten Patientin mit Osteoporose, zu der die Ärztin sagte: „Ohje, sie haben Knochen wie eine 80-Jährige, passen sie auf, dass sie sich im Schlaf  nicht die Knochen brechen.“ Fatal, denn: Der Einfluss auf das Schmerzerleben dürfte nicht positiv sein. Der auf die für die Behandlung wichtige körperliche Aktivität auch nicht. Dabei geht es auch anders:  In einer Studie wurde beobachtet, dass die Wirkung einer Placebocreme bei allergischer Hautreaktion am stärksten war, wenn Ärztinnen und Ärzte nicht nur fachliche Kompetenz zeigten, sondern auch empathisch handelten.„Dazu gehörten Gesten wie die Betroffenen mit Namen anzusprechen, sich neben sie zu setzen, Blickkontakt zu halten und aufmunternd zu lächeln“, so Kappesser. 

Bessere Wirkung einer Placebocreme, wenn Ärztinnen empathisch handeln

Bei monatelang andauernden chornischen Schmerzen hat sich der  Schmerz  „quasi verselbständigt und von körperlichen Ursachen entkoppelt“, sagte Privatdozent Dr. med. Lars Neeb,  diesjähriger Kongresspräsident.   Zentrales Element bei der Behandlung ist die sogenannte multimodale Schmerztherapie, die neben Medikamenten  auch Bewegung, Entspannungstherapien und eine kognitive Verhaltenstherapie zur Schmerzbewältigung umfasst. „Hier gibt es jedoch große Versorgungslücken“, sagt Professor Dr. Axel Schäfer, Professor für Therapieforschung und Physiotherapeut an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim.  Patienten warten oft monatelang auf einen Therapieplatz. Hier könnten digitale Möglichkeiten überbrücken. Allerdings steckt auch dieser Bereich noch in den Kinderschuhen – die Aussichten scheinen aber vielversprechend.

Schäfer nannte zum einen Virtuelle Realität (VR). Patienten könnten mit VR-Brillen in für sie passende Entspannungswelten, etwa einen Strand, eintauchen und konkret vom Schmerz abgelenkt werden. Mittels Illusion eines virtuellen Körpers mit Avataren könnten sie sich selbst als beweglich und gesund erleben, etwa beim (virtuellen) Klettern. Dies wiederum könne die Schmerz- und Körperwahrnehmung in der realen Welt positiv verändern. Ein Phänomen, das als Embodiment bezeichnet wird. Elf Metaanalysen ergaben vielversprechende Wirksamkeit, so Schäfer. Allerdings würden die VR-Brillen bislang erst vereinzelt in Rehaklinken und Physiopraxen eingesetzt.  Nachteil: Eine Brille koste rund 400 Euro, und die Brillen seien auch nicht für alle geeignet. Bei  Kopfschmerzpatienten etwa könne der Druck der Brille auf den Kopf kontraproduktiv wirken.

Ablenkung durch virtuelle Realität

Eine „kleine, aber signifikante schmerzreduzierende Wirkung“ könne durch unterstützend eingesetzte Apps erzielt werden. Mittlerweile sind elf für den Indikationsbereich Schmerz vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) anerkannt und als erstattungsfähige DiGAs (Digitale Gesundheitsanwendungen) gelistet. „Meist beinhalten sie Elemente wie Stressreduktion, Entspannung, Schlafhygiene, Ernährung oder ein Schmerztagebuch“, fasst Schäfer zusammen.   Die Apps böten zudem  die Möglichkeit,  Daten zu erheben und damit einen Beitrag zur Erforschung chronischer Schmerzphänomene zu leisten, betonte Dr. Lars Neeb und verwies in diesem Zusammenhang auf die Migräne- und Clusterkopfschmerz-App der DMKG, die eine anonymisierte Verknüpfung der App-Daten mit dem Kopfschmerzregister der DMKG ermögliche. Dies sei besonders hilfreich für  Fragen zu Wirksamkeit und  Nebenwirkungen von Migränemedikamenten.  

Migräne tritt zweimal häufiger bei Frauen auf

Weiteres Thema: Schmerz und Geschlecht.   Männer und Frauen leiden unterschiedlich. Aber die Forschung stehe auch hier noch „ganz am Anfang“.  Dabei tritt Migräne, die insgesamt ca. 15 Prozent der Bevölkerung quäle,  zweimal häufiger bei Frauen auf, während der Clusterkopfschmerz häufiger Männer betreffe.   Auch die Symptome würden von Frauen durchschnittlich als intensiver empfunden.  Als ein Grund werden Schwankungen in den Konzentrationen von Sexualhormonen vermutet. Dr. med. Bianca Raffaelli, Fachärztin für Neurologie, Charité: „ Ein schneller Abfall der Östrogenkonzentrationen kann bei manchen Frauen Migräneattacken triggern, was als ,Östrogenentzugshypothese’ bekannt ist. Dies ist zum Beispiel kurz vor und während der Menstruation – bei der sogenannten menstruellen Migräne – der Fall. Weitere Beispiele sind der Östrogenabfall nach Entbindung, das hormonfreie Intervall bei Einnahme einer oralen Kontrazeption oder die Hormonschwankungen während der Wechseljahre.“  Möglicherweise führe der Östrogenabfall bei Frauen mit Migräne zu einer vermehrten Ausschüttung von CGRP, einem entzündlichen Botenstoff. 

Auch insgesamt seien Frauen  häufiger von Schmerzen und Schmerzerkrankungen betroffen  und  berichteten von intensiveren und länger anhaltenden Schmerzen in mehr Körperbereichen, berichtete Dr. med. Daniela Rosenberger, Assistenzärztin der Anästhesie, Universitätsklinikum Münster. Weiterer Knackpunkt, der nicht auf Schmerzmedikamente beschränkt ist: Lange Zeit wurden Medikamentenstudien nur an Männern durchgeführt und Ergebnisse und Dosierungen einfach auf Frauen übertragen. Für einige Schmerzmittel wurde aber gezeigt, dass sie bei Frauen anders wirken und verteilt beziehungsweise abgebaut werden, was ein unterschätztes Risiko von Unverträglichkeiten, Nebenwirkungen und Überdosierung birgt.   (hin)