Missbrauch
in der Therapie

Max Leon (26) im Interview mit ZDF-Redakteurin Stephanie Schmidt. Foto: ZDF

Ein angesehener Therapeut missbraucht seinen 7-jährigen Patienten mehrfach schwer sexuell. Erst zehn Jahre später wird er verurteilt. Vor dem Hintergrund der Haftentlassung des Täters 2024, erzählt Max Leon in der ZDF-Reportage-Reihe 37° zum ersten Mal öffentlich seine Geschichte. Er will verhindern, dass anderen geschieht, was ihm widerfahren ist, will aufklären.

Als kleiner Junge hatte Max Leon Probleme beim Lesen und Schreiben. Die Schule rät der Mutter, einen Psychologen zu konsultieren. Der Kinderpsychologe Herr Heinz (Name von der Redaktion geändert), ein erfahrener Therapeut,  hat Zeit für Max Leon und so kann er regelmäßig zur Therapie gehen. Was dann geschah beschreibt die Autorin des Films – die ZDF-Redakteurin Stephanie Schmidt – in der Pressemappe so: „Das Lesen und Schreiben verbessert sich nicht, aber Max Leon verändert sich. Er ist verschlossener, will nicht über das reden, was in der Therapie passiert. Der Psychologe erklärt der Mutter, ,dass es Zeit sei, sich abzunabeln, Max Leon müsse seinen eigenen Rahmen für Erfahrungen haben, sein Schweigen sei völlig normal.’

 Es vergeht ein Jahr – Max Leon zieht sich immer mehr zurück.  Im Hausmüll entdeckt Anne plötzlich eingekotete Unterhosen. Sie ist entsetzt und macht sich Sorgen. Ihr Sohn hatte nie Probleme mit Einnässen oder Ähnlichem. Anne befürchtet, die Therapie tue Max Leon nicht gut, doch der Kinderpsychologe beruhigt:  Max Leon würde es sehr gut gehen. Er habe wohl gerade seine anale Phase…”

„Heute baden wir wieder”…

„Die Warnlampen, wie sie selber beschreibt, seien erst angegangen, als Herr Heinz bei einem Besuch sagte: ,Heute baden wir wieder.’ ,Warum soll ein Kinderpsychologe ein Kind baden? Ich wusste plötzlich, hier kann etwas nicht stimmen. Dein Gefühl täuscht dich nicht.’ Anne bricht von heute auf morgen den Kontakt ab. Max Leon muss nicht mehr zur Therapie gehen – aber Max Leon schweigt. Wenn sie fragt, ob mehr als nur das Baden gewesen sei, wird er aggressiv und schreit sie an. 

Es dauert fünf Jahre bis Max Leon an dem Gefühl von Scham und Schuld fast zerbricht und sich seiner Mutter endlich anvertraut. In den fünf Jahren hat er sich verändert, er ist 13 Jahre alt, und er hat im Wald ein Versteck für Waffen gebaut, wechselte die Straßenseite, wenn ältere Männer ihm entgegenkommen und wird in der Schule immer schlechter. Sein Leben, wie er heute sagt, bestand aus Angst. Angst, dass Herr Heinz zurückkommt.“

Nach der Anzeige beginnt eine zweite Leidensgeschichte

Als Max Leon mit dem Kinderschutznotdienst über das Erlebte spricht, geht alles recht schnell, berichtet die Autorin des Films weiter. Und wird dann doch zum Dauer-Alptraum. 2010 erfolgt eine Anzeige, und es kommt zum Prozess. „Alles scheint ganz klar“.  Herr Heinz hatte Max Leons Mutter, nachdem sie ihn zur Rede gestellt hatte, schriftlich Geld angeboten. 200 Euro monatlich. Er hätte Max Leon niemals weh tun wollen. Für die Staatsanwaltschaft und den Richter eine klare Sache – so klar, dass sie auf die Glaubwürdigkeitsbegutachtung von Max Leon verzichten und Herrn Heinz 2012 verurteilen. Doch dieser klagt vor dem BGH und bekommt Recht. Max Leon hätte in seiner Glaubwürdigkeit begutachtet werden müssen. Das Urteil geht zurück an das zuständige Landgericht in Saarbrücken und der Prozess beginnt erneut.

Zehn Jahre vergehen. Eine unglaubliche zweite Leidensgeschichte breitet sich aus. „Der Kinderpsychologe zieht das Verfahren in die Länge und erscheint nicht bei Gericht, lässt sich Verhandlungsunfähigkeit attestieren oder hält sich in einer Privatklinik auf“, so Stephanie Schmidt. „Seine Gutachten werden von namhaften saarländischen Psychotherapeuten ausgestellt. Eine Überprüfung der Atteste erfolgt lange Zeit nicht. Währenddessen bedeuten die Verhandlungstage für Max Leon eine weitere Traumatisierung.  

„Es war ein zweiter Missbrauch”

Er fühlt sich in dieser Zeit wie der Täter und nicht wie das Opfer: „Ich durfte lange keine Therapie machen, um das Trauma zu verarbeiten, damit meine Aussage nicht verfälscht wird. In dieser Zeit habe ich meine Pubertät durchlebt. Von mir wurde verlässliches Erscheinen gefordert und gleichzeitig musste ich erleben, wie der Täter sich einfach aus der Verantwortung zieht und währenddessen noch weiter auf freiem Fuß ist und wahrscheinlich arbeitet. … Ich musste in der lokalen Zeitung lesen, dass ich schizophren sei, vor Gericht wurde von der Verteidigung behauptet, dass meine Mutter ein Verhältnis mit Herrn Heinz eingehen wollte und weitere schlimme Sachen. Es war ein zweiter Missbrauch.” 

 Von Max Leons neuer Therapeutin erfährt die Mutter vom Ethikverein, der einzigen Anlaufstelle, die sich in Deutschland um Opfer von Missbrauch in der Therapie kümmert. Dr. Andrea Schleu hat ihn vor vielen Jahren gegründet. „Das einzige Forschungsgutachten zu dem Thema stammt von 1995, und wenn man die Zahlen von damals hochrechnet, kommen wir inzwischen auf ca. 1.400 Fälle pro Jahr. Doch diese Fälle sind mit sehr viel Scham verbunden, und Scham macht stumm. Die juristische Aufarbeitung ist schwierig. Nur vier Fälle schaffen es jährlich, vor Gericht verhandelt zu werden – die meisten Fälle werden wegen mangelndem öffentlichen Interesses eingestellt”, so Dr. Andrea Schleu. Das Problem: Missbrauch in einem geschützten Raum, der immer zu zweit stattfindet, ist schwer zu beweisen. Andrea Schleu kennt viele Beispiele: “Es steht immer Aussage gegen Aussage. Wie will jemand einen Missbrauch beweisen? Der Täter behauptet, sein Patient sei krank, bilde sich das ein. So war es auch bei Max Leon.

Mit Unterstützung des Ethikvereins beginnt sich die Geschichte zu drehen

Für Anne und Max Leon beginnt sich die Geschichte seit Unterstützung durch den Ethikverein zu drehen. Die Urteilsunfähigkeit von Herrn Heinz  wird überprüft. Herr Heinz muss sich dem Verfahren stellen und wird aus einer Privatklinik heraus in Polizeigewahrsam genommen. Zusätzlich meldet sich ein weiteres Opfer. Im Dezember 2020 wird Herr Heinz in Saarbrücken wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Haftstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Aber ist das auch das Ende? 

„Hat Herr Heinz seine Approbation verloren oder darf er weiter therapieren?“ Diese Frage stellt sich den Beteiligten.  Im Urteil stehe nur etwas von einem Berufsverbot von fünf Jahren. Laut Ethikverein und wissenschaftlicher Literatur werden 80 Prozent der Täter zu Wiederholungstätern. Dieser Gedanke lässt Max Leon keine Ruhe. „Er schreibt Briefe an das Landesamt für Soziales und die saarländische Psychotherapeutenkammer. Sie bleiben weitestgehend unbeantwortet. Manchmal wird ihm geschrieben, dass der Datenschutz eine Auskunft verhindere“, so Stephanie Schmidt. 

2024 hat der Täter seine Strafe abgesessen. Der Kinderpsychologe zeige laut der Autorin der Reportage „bislang kein Zeichen der Reue oder Einsicht, sondern sieht sich selbst als Opfer. Das ging aus seiner schriftlichen Stellungnahme hervor, die er auf Anfrage, schickte.“  (rd/PM ZDF)

Die “37°Leben”-Sendung “Glaubt mir! Missbrauch in der Therapie” steht bereits ab Freitag, 10. November, für fünf Jahre in der ZDFmediathek zur Verfügung. Sie wird Sonntag, 12. November, um 9 Uhr ausgestrahlt.