Richter sichern Urnengang

Künftig dürfen auch bislang vom Wahlrecht ausgeschlossene Menschen mit Behinderung ihr Kreuz setzen. Foto: www.pixelio.de / Gabi Eder

Psychisch kranke und behinderte Menschen mit so genannter Vollbetreuung können erstmals bei der Europawahl am 26. Mai ihre Stimme abgeben. Sie müssen dazu ihre Aufnahme in das Wählerverzeichnis beantragen, wie das Bundesverfassungsgericht am Montagabend in Karlsruhe entschied. Damit sind mehr als 80.000 Menschen in Deutschland erstmals wahlberechtigt. (AZ: 2 BvQ 22/19). Sie müssen bis 5. Mai einen entsprechenden Antrag stellen. Das teilte Bundeswahlleiter Georg Thiel am Dienstag in Berlin mit. Er äußerte sich zuversichtlich, das Urteil in der vorhandenen Zeit umsetzen zu können. Er gehe davon aus, dass viele von der Regelung Betroffene nicht an der Urnenwahl teilnehmen, sondern eine Abstimmung per Brief vornehmen. Wie viel Unterstützung durch den Betreuer im Fall der Urnenwahl erlaubt ist, sei nicht eindeutig geregelt. Das müsse sich in der Praxis finden, so Thiel.

Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer (CSU), bezeichnete es als ein sehr ehrgeiziges Unterfangen, für alle Betroffenen geeignete Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Der Bundestag hatte im März beschlossen, dass künftig auch behinderte Menschen mit Vollbetreuung wählen und für eine Wahl kandidieren dürfen. Die Neuregelung sollte aber erst zum 1. Juli in Kraft treten und wäre damit zur Europawahl Ende Mai noch nicht wirksam gewesen. FDP, Grüne und Linke stellten daher einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht.

Der Parlamentarische Staatssekretär Mayer hatte während der Verhandlung erklärt, dass die Wählerverzeichnisse nur mit hohen Aufwand bereinigt werden könnten. „Alle Wahlrechtsausschlüsse sind zwar gespeichert, allerdings nicht der Grund dafür”, erklärte er. Daher sei keine technische Lösung möglich, sondern es müsste jeder Einzelfall angeschaut werden. „Da fehlt uns schlicht die Zeit.” Vertreter der Opposition erklärten, dass ihnen der Arbeitsaufwand bewusst sei. Den Betroffenen bedeute die Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte aber sehr viel. 

In Nordrhein-Westfalen dürfen Behinderte seit 2016 ihre Stimme bei Landtags- und Kommunalwahlen abgeben. Nach Einschätzung von Landeswahlleiter Wolfgang Schellen wäre dies auch für die Europawahl möglich. „Für die Kommunen wäre das ein erheblicher Zeitaufwand, und ich will nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass es völlig fehlerfrei läuft, aber es wäre zu leisten”, sagte er. 

Mit der Gesetzesnovelle hatte der Bundestag auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Januar reagiert. Demnach dürfen psychisch kranke und behinderte Menschen nicht pauschal von Wahlen ausgeschlossen werden. Auch schuldunfähige, im Maßregelvollzug untergebrachte Straftäter sollen zukünftig wählen dürfen.

Der Bundesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, sprach von einem Sieg der Demokratie und bezeichnete die jetzt anstehende praktische Umsetzung gegenüber dem Deutschlandfunk als „sportlich”, aber machbar. Behörden und Ämter seien nun aufgefordert, unbürokratisch und schnell zu handeln. Wahlunterlagen müssten anders gestaltet werden – besser lesbar und auch in leichter Sprache ausgedrückt. Auf die Frage nach möglichen Gefahren durch Manipulation oder Beeinflussung durch Betreuer oder Angehörige im Assistenzfall verwies er auf vergleichbare Situationen bei der Briefwahl. Im übrigen seien diese Einwände auch schon bei Einführung des Frauenwahlrechts geäußert worden. Der Staat müsse seinen Bürgern auch vertrauen können, dass es rechtskonform zugehe.

Auch der Bundesverband der Berufsbetreuer/innen e.V. begrüßte die Entscheidung. Geschäftsführer Dr. Harald Freter: „Wir haben seit Jahren ein inklusives Wahlrecht gefordert. Zehn Jahre nach Inkfrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention ist es nun Wirklichkeit. Wir danken den Parteien, die den Eilantrag gestellt haben, und den Richtern des Bundesverfassungsgerichts für die rasche und klare Entscheidung. Das ist ein großer Schritt. Nun muss im Zuge des Reformprozesses auch die ‚Betreuung in allen Angelegenheiten‘ abgeschafft werden. Sie ist diskriminierend.“

Der BdB bittet seine mehr als 7.000 Mitglieder darauf zu achten, dass Klienten mit einer Betreuung in allen Angelegenheiten jetzt auch in die Wählerverzeichnisse eingetragen werden, damit sie ihr Wahlrecht wahrnehmen können. Nach Absprache mit ihren Klienten können sie auch aktiv solche Anträge auf Aufnahme in das Wählerverzeichnis stellen. Zugleich fordert der Verband die Wahlleiter auf, die Betroffenen von sich aus in die Wahlverzeichnisse aufzunehmen und nicht auf Anweisungen oder Ausführungsbestimmungen zu warten.