Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein: Die Pflegegruppe Buurtzorg verspricht zufriedene Kunden und glückliche Mitarbeiter – und will dem Gesundheitssystem auch noch Kosten sparen. Wie soll das gehen? Ist Buurtzorg ein Modell für die Zukunft?
Wenn morgens eine Mitarbeiterin von Buurtzorg an der Haustür klingelt, um ihrem Mann die Beine zu verbinden, ruft Martha Adolf: „Die Wickeltante kommt!“ Ein halbes Jahr ist es her, dass sich das Rentnerpaar aus dem nordrhein-westfälischen Hörstel für den ambulanten Pflegedienst entschieden hat. Sie haben es nie bereut, sagt die 78-Jährige: „Das sind nette Leute, die sich die Zeit nehmen, die sie brauchen. Und gut wickeln können sie auch!“ Selbstverständlich ist das nicht, weiß Martha Adolf. Der Dienst, der ihren Mann Jürgen vorher versorgte, hat sie das gelehrt: „Die waren rabiat, nach dem Motto: ,Das wird so gemacht und fertig!‘“
Einer der Menschen, die sich jetzt um Jürgen Adolf kümmern, ist Mark Adolph. Der 31-Jährige gehörte 2017 zu den ersten Buurtzorg-Teams hierzulande. Den Unterschied zwischen seinem Arbeitgeber und einem herkömmlichen ambulanten Pflegedienst beschreibt der Krankenpfleger so: „Normale Anbieter versuchen oft, möglichst teure Leistungen zu verkaufen und die in möglichst wenig Zeit zu erledigen. Wir schauen, was der Patient wirklich braucht: Ist es die Nagelpflege, oder will er an diesem Tag lieber unter die Dusche gehen?“
„Innerhalb des Teams sind alle gleichberechtigt”
Weitere Besonderheit: Buurtzorg-Angestellte arbeiten in weitgehend selbstständigen, kleinen Teams mit höchstens zehn Leuten. Eine Pflegedienstleitung gibt es nicht, „innerhalb des Teams sind alle gleichberechtigt“, sagt Adolph. Die Idee dahinter: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen die finanzielle Lage des Pflegedienstes jederzeit nachvollziehen können. Idealerweise arbeiten sie genau so, dass die Kosten gedeckt sind. Benötigen sie Hilfe, stehen ihnen Coaches des Unternehmens zur Seite.
In den Niederlanden ist Buurtzorg ein Erfolgsmodell: Mehr als 1.000 Teams seien innerhalb von zehn Jahren entstanden, sagt Gunnar Sander. Der 43-Jährige führt die Geschäfte von Buurtzorg Deutschland. Mehr als ein Dutzend Teams bundesweit hat er in den vergangenen drei Jahren allerdings noch nicht aufbauen können. „Vielleicht ist das auch eine kulturelle Frage“, sagt Sander. „Vielleicht sind die Niederländer wagemutiger, risikofreudiger, und vielleicht gibt es hier mehr Bedenkentum?“ Wachstumspläne habe er nicht. „Ein Team entsteht nur dort, wo Menschen Lust haben. Wir brauchen mindestens eine Ankerperson.“
Buurtzorg rechne mit den Pflegekassen ausschließlich tatsächlich geleistete Arbeitszeit ab, sagt der Geschäftsführer. Durchschnittlich 42 Euro bekomme das Unternehmen pro Stunde erstattet, kostendeckend sei das nicht. „50 Euro benötigen wir, und ich hoffe, dass wir sie irgendwann auch bekommen.“ In den Niederlanden erhalte Buurtzorg 63 Euro pro Stunde. „Die Kassen haben Angst, dass unser Modell ein Anreiz wäre, viele Stunden abzurechnen“, sagt Sander. Das Gegenteil sei aber der Fall: „Gutachten in den Niederlanden zeigen, dass die Kosten langfristig um 30 Prozent sinken.“
Pflegemodell wird in Deutschland wissenschaftlich untersucht
Ob und wie das niederländische Vorbild die ambulante Pflege in Deutschland verbessern könnte, untersuchen derzeit Forschende der Fachhochschule Münster und der Hochschule Osnabrück. Ende kommenden Jahres sollen ihre Ergebnisse vorliegen. Gut möglich, dass die Ideen von Buurtzorg bald mehr Verbreitung finden werden. Immerhin hat sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bereits im November 2019 persönlich über das Modell und seine Qualitäten informiert.
In Fachkreisen wird die Entwicklung von Buurtzorg mit Interesse beobachtet. „Ich finde es nachvollziehbar, dass es gut läuft, wenn Mitarbeiter Verantwortung übernehmen“, sagt Katrin Kell, Fachbereichsleiterin Pflege und Senioren beim Diakonischen Werk Hamburg. Gerade für junge Menschen, die den Beruf neu erlernen, sei das ein gutes Modell. Und auch bei der Finanzierung habe Buurtzorg eine Vorbildfunktion: „Es wäre sehr gut, wenn die Pflegekassen nur noch nach Zeit abrechnen würden.“ Ulrich Jonas (epd)