„Maßschneidern,
was trägt”

In der Kunstwerkstatt von Haus 18: Dr. Guntram Knecht. Foto: Hinrichs

Warum es im Ochsenzoller Maßregelvollzug sicherer ist als in der Allgemeinpsychiatrie, woran es psychiatriepolitisch hakt und wie Primärprävention aussähe: ein Gespräch mit Dr. Guntram Knecht. Ende des Jahres geht der Chefarzt der Forensischen Psychiatrie in den Ruhestand. Der EPPENDORFER sprach mit ihm über das unaufhaltsame und unheilvolle Wachstum des Maßregelvollzugs – und was er dagegen setzen würde.

EPPENDORFER: Herr Dr. Knecht, in Berlin wurden dramatische Zustände im  Maßregelvollzug öffentlich, allerorten ist von Überfüllung der Forensiken die Rede,  „brennt“ es in Hamburg auch?

KNECHT: Nein. Wir haben gute Ergebnisse, aber unglaublich viele neue Zuweisungen. 

EPPENDORFER: Wie groß  ist denn die Überbelegung, wie lang die Unterbringungsdauer und wie steht es bei Ihnen um die Personalsituation?

KNECHT: Wir sind mit 390 Patienten auf 325 Betten erheblich überlegt. Das funktioniert nur, weil auch Patienten zur Entlassungsvorbereitung beurlaubt sind. Und wir betreiben intensive Bauplanungen. Schwerpunktmäßig sind unsere Patienten in Einzelzimmern untergebracht, zur Not wird vereinzelt überbelegt, mehr nicht.

Die Unterbringungsdauer  lag  2022 bei 6,5 Jahren – gegenüber 8,5 im Bundesdurchschnitt. Personalprobleme haben auch wir, sind aber mit viel Anstrengung ausreichend bestückt. Bei uns kommen ca. 430 MitarbeiterInnen auf 390 Patienten.  

EPPENDORFER: Andernorts mussten Verurteilte in Freiheit auf einen Platz im Vollzug warten. Gibt es so etwas in Hamburg auch?

KNECHT: Nein, jeder rechtskräftig Untergebrachte wird aufgenommen. Das Problem sind die einstweilig Untergebrachten (§ 126 a StPO). Die sind im Moment in die Untersuchungshaftanstalt ausgelagert, weil wir nicht genug Plätze haben.  

EPPENDORFER: Wie ist der Stand in  Sachen Neubau – wann wird es mehr Plätze geben? 

KNECHT: Dieses Jahr werden wir 50 Plätze zusätzlich in Betrieb nehmen. Die Machbarkeitsstudie für einen Neubau ist noch nicht abgeschlossen. Geplant sind 5 neue Stationen mit insgesamt 75 Plätzen. Platz ist auf dem Gelände. Das könnte in frühestens drei Jahren umgesetzt sein. 

 EPPENDORFER:  Der Bereich Forensik wächst ja unaufhaltsam –  auch, weil zunehmend Patienten aus der Allgemeinpsychiatrie in die Forensik verlegt bzw. überwiesen werden – was ist aus ihrer Sicht nötig für eine Trendumkehr? 

KNECHT: Psychiatriepolitisch ist das klar. Wir bekommen die schwierigen Patienten aus der Allgemeinpsychiatrie, die dort keine adäquate Behandlung mehr erhalten. Der typische Neu-Patient ist schizophren erkrankt, seit Jahren unbehandelt, im Verlauf der Erkrankung wohnungslos geworden, und es gibt zehn polizeiliche  Vorfälle in der Vorgeschichte. Etwa, dass er in der S-Bahn oder beim Einkaufen vor dem Hintergrund psychotischen Erlebens Menschen attackiert oder  mit Gewalt bedroht hat. Für diese Patienten ist es schwierig, Plätze zu finden,  auch nach Entlassung, da es auch an geschlossenen Heimplätzen fehlt.  Da geht es aber auch um Behandlungsdauern in der Allgemeinpsychiatrie über 6 Wochen hinaus, wo die Kassen nervös werden. Und da geht es auch darum, dass die gesetzlichen Möglichkeiten, etwa im Betreuungsrecht, geringer geworden sind nicht Krankheitseinsichtige aufzufangen und behandeln zu können. 

EPPENDORFER:  Sehen Sie in der Allgemeinpsychiatrie auch einen Trend,  junge, aggressiv agierende Schizophreniekranke eher in die Forensik zu überweisen  als es früher üblich war?

KNECHT: Ja, den Transfer sehen wir auch. Zum  Großteil, weil es keine Struktur dazwischen gibt, die das auffängt. Wir überlegen deshalb in Ochsenzoll noch mehr Akutbetten  zur Verfügung zu stellen. Und es gibt ja auch schon eine lange Diskussion mit der Stadt, mehr Geschlossene Heimplätze zu schaffen.

EPPENDORFER: Das LüttHus soll ja verdoppelt werden…?

Knecht. Ja, da wird viel gesprochen. Aber das ist alles zu langsam und zu wenig. Die Vorfälle, über die in den Medien berichtet wird, sind ja immer ähnlich. Da wird jemand auffällig, aber es gelingt nicht diese Risikopatienten stationär unterzubringen und zu behandeln und wenn es dann zu weiteren Schwierigkeiten kommt, landet der Patient  in der Forensik. Wir sind ein Teil der Akutversorgung von chronisch schizophren Erkrankten geworden. 

EPPENDORFER: Muss sich da nicht die Akutpsychiatrie verändern?

KNECHT Ja, das hängt aber auch an den Rahmenbedingungen. Die sind so, dass man mit Drehtürpatienten und chronischen Patienten viel Arbeit hat und es für die Akutpsychiatrie besonders schwierig ist, Personal zu finden. Dazu kommen die Unterbringungsrichter, die nach Tagen sagen,  die Gefahr ist nicht mehr akut, und der Patient geht unbehandelt nach  Hause.  Ich sehe Patienten, die sind seit Jahren psychotisch,  reisen unbehandelt durchs Bundesgebiet. Und irgendwann gibt’s dann einen sogenannten Summenscore – die haben niemanden umgebracht, aber  zehnmal jemand geschlagen, jemanden bedroht, Sachen beschädigt, sowas. Und dann landen sie direkt in der Maßregel. Die Forensik ist dann offenbar die Ebene, wo über das Strafrecht eine Behandlung organisiert werden soll. Das gab es früher nicht.

EPPENDORFER: Hat das auch damit zu tun, das man eigentlich weg von Zwangspsychiatrie will? 

KNECHT:  Ja, und das ist auch gut. Aber das Recht auf Krankheit ist natürlich ziemlich strapaziert, wenn der Mensch nur mehr nach seinem krankheitsbedingtem Willen lebt. Bei dieser Gruppe der unterernährten, wohnungslosen, chronisch kranken und   unbehandelten Patienten müssen wir auch über Fürsorge diskutieren. Was auf den ersten Blick, als systematische Vermeidung von Zwang, hilfreich und fortschrittlich erscheint, kann bei differenzierter Betrachtung das genaue Gegenteil bewirken. Es kann zur Ausgrenzung und Abschiebung jener Patientengruppe führen, zu deren Behandlung die Reformpsychiatrie ursprünglich angetreten ist.

EPPENDORFER: Ist das Ganze dann eher eine Summe der Entwicklungen in der Psychiatrie oder auch der Gesellschaft, in der mehr Menschen verelenden?

KNECHT: Unsere älter werdende Gesellschaft ist durchaus empfindlicher und intoleranter geworden, was Gewaltvorfälle und Drohungen angeht.  Da werden auch Menschen tendenziell früher untergebracht als vor 15 Jahren. Gleichzeitig haben die Individual- und Freiheitsrechte zugenommen. Das ist ein Teil des Sogs, den wir in die Forensik haben. 

EPPENDORFER: Wie könnte man diesen Entwicklungen entgegenwirken?

KNECHT: Wir brauchen eine gemeindenahe nachgehende Behandlungs-Struktur für  chronisch Kranke, die unbehandelt  und in großen sozialen Schwierigkeiten sind. In den Bereichen Wohnungslosenhilfe und Migration würde man ein Großteil dieser Patienten finden. Wenn wir dann noch gucken würden, was wir man mit den Psych-KG-Drehtürpatienten  machen können, wären die Hauptfelder abgedeckt aus denen sich die Forensik-Patienten rekrutieren. 

Fachlich sind wir ja deutlich besser geworden vorherzusagen, wer das Risiko trägt, forensisch auffällig zu werden.  Was fehlt ist die Konsequenz: Ein Angebot für besonders kranke und gefährdete Patienten. Die Ideen sind auch formuliert. Aber dann wird es unglaublich schwierig, weil  im fragmentierten psychiatrischen Versorgungssystem  jeder seine eigenen Interessen realisiert. Bezüglich der intensiven ambulanten  und aufsuchenden Behandlung über die PIA, von der ich spreche,  streiten sich die beteiligten Gruppen seit Jahren um die Finanzierung. Das kommt  in Deutschland überhaupt nicht voran.  

 EPPENDORFER: Der Bericht der Aufsichtskommission für den Hamburger Maßregelvollzug für die Jahre 2018/19  verzeichnet vergleichsweise erstaunlich wenige Fixierungen und Zwangsbehandlungen. Von 18 Fixierungen in 2018 und 17 in 2019 –  überwiegend im Bereich der Akut­ und Aufnahmestation – ist da die Rede. Zwangsbehandlungen gab es in diesen Jahren keine? Wie händeln Sie denn das? Gibt es dafür mehr Isolierungen?

KNECHT: Wir sind gut und das sind unglaubliche Zahlen, die wir da haben. Das liegt an den intensiven Maßnahmen zur Deeskalation. Und daran, dass wir  unsere Patienten ungewöhnlich gut  kennen und ein Gefühl für Belastungsfaktoren haben. Wenn der Vater stirbt oder die Freundin sich trennt, dann wissen wir das und kümmern uns, damit die Patienten nicht aus dem Ruder laufen.  

EPPENDORFER: Und was passiert mit denjenigen, die keine Medikamente nehmen?

KNECHT Für die haben wir eine eigene therapiefreie Langzeitstation gegründet, die erste dieser Art in der BRD. Damit  haben wir gute Erfahrungen gemacht. Dort können sich Patienten eine Auszeit nehmen, Kräfte sammeln und die erstaunliche Erfahrung ist, dass von dort und auch auf anderen Stationen nach Psychoedukation die meisten Patienten wieder bereit sind für eine medikamentöse Behandlung.  

EPPENDORFER: Und im Krisenfall?  

KNECHT: Mit Patienten, die  Medikamente brauchen, verhandeln wir und besprechen sehr individuell, was Vor- und Nachteile sind. Was hilft ist, dass sie erleben, wie andere, Patienten von Medikamenten profitieren und  zum Beispiel Lockerungen bekommen oder einen Schulabschluss schaffen. Das Vorbild des Nebenpatienten ist sehr motivierend.

 EPPENDORFER: Und wenn es zu akuten Krisen kommt?

KNECHT: Dafür haben wir auf den meisten Stationen vandalensichere Krisenräume, mit denen Krisen bewältigt werden können. Ansonsten haben wir  unterschiedliche Sicherungsniveaus auf den Stationen. Und weil wir die hoch brisanten Patienten separat unterbringen, sind die weiteren Stationen entlastet. 

EPPENDORFER: Ist Gewalt hier nicht so ein Thema?

KNECHT: Doch natürlich. Aber wir sind im Fachgebiet Psychiatrie das Segment mit dem größten Know-how was Prognostik, Prävention und Behandlung von Gewalt bei psychischen Störungen betrifft. Wir machen noch Sekundärprävention, aber in der Psychiatrie der Zukunft sollte es um Primärprävention gehen. 

EPPENDORFER: Wie würde die aussehen? 

KNECHT: Wir würden bei Patienten prognostisch das krankheitsbezogene Gefährdungspotential  identifizieren und  bei entsprechend hohem Risiko bereits präventiv ein Angebot machen, damit es gar nicht zu einem Gewaltvorfall kommt, der ihn in die Forensik bringt. Das wäre die Psychiatrie der Zukunft. Das können wir präforensisch in unserer Ambulanz bereits für eine kleine Risikogruppe machen. Wir bestellen solche Patienten auch dreimal die Woche in die Ambulanz, kümmern uns um Wiedereingliederung und Wohnplätze.  Maßschneidern etwas, was trägt.  Aber aktuell sind die psychiatrischen Versorgungsbereiche zu wenig vernetzt. Und wir sind zu klein. Die Primärprävention kommt zu kurz.

EPPENDORFER: Wer müsste umsteuern, damit weniger Patienten im Maßregelvollzug landen?

KNECHT: Man müsste psychiatriepolitisch alle Player und auch die Kassen ins Boot holen und ein Sonderprogramm für Drehtürpatienten und „Multi-Problem-People“, so nennen es die Engländer, auflegen – Bevor wir jedes Jahr eine neue Forensikstation bauen. Es gibt Alternativen, die sind formuliert. Aber die psychiatrische Regelversorgung versucht sich aus diesen Komplikationen psychiatrischer Erkrankungen zunehmend zurückzuziehen. Wenn jemand psychiatrisch erkrankt und schlecht behandelt ist, erhöht sich die Gefahr von Suizid und Gewaltvorfällen. Das sind medizinische Komplikationen des Krankheitsverlaufes, wie beim schlecht behandelten Diabetes, der zur Erblindung führt. Da kann man nicht sagen, wenn es zu Gewalt kommt, ist die Psychiatrie nicht mehr zuständig. 

EPPENDORFER: Sie meinen die  Diskussion rund um den Vorschlag, Psychiatrie vom Sicherungsauftrag zu befreien und alle Straftäter nur freiwillig in Gefängnissen zu behandeln?

KNECHT: Ja, das ist doch absurd. Das wäre, als wenn jemand, der mit Diabetes zu erblinden droht,  nicht mehr zum Internisten darf und nur zum Augenarzt geht. Das wird dem Problem nicht gerecht.  Das sind schwierige Fragen, die man aber nicht löst, indem man sie wegschiebt. 

EPPENDORFER: Gewalt ist da – nimmt sie generell zu?

KNECHT: Nein, unser Umgang damit verändert sich. Wir sollten uns bewusst sein für schwer psychiatrisch Erkrankte Konzepte einer „haltenden Umwelt“ mit verlässlichen, auch im Konfliktfall standhaltenden Beziehungen nicht vorschnell zu ignorieren, oder reflexartig mit dem Verdacht des Machtmissbrauchs zu verbinden.

EPPENDORFER: Wie steht es um die Frauen?

KNECHT:  Wie im Strafvollzug:  das Mann-Frau-Verhältnis beträgt 1:10. Wir haben sehr schwer kranke Frauen, meist mit 2-3 komorbiden Störungen. Das wird auch mehr. Vor 20 Jahren hatten wir kaum psychisch kranke Frauen die bereits obdachlos waren. Zur Zeit bekomme ich nur obdachlose Frauen, die unbehandelt chronisch psychosekrank und süchtig sind. 

EPPENDORFER: Sind die schwerer als früher erkrankten Frauen im Maßregelvollzug aus dem System gefallen, schlecht behandelt oder durch schwierigere Lebenssituationen so krank geworden?

KNECHT: Beides. Offensichtlich sind die Defizite in der Qualität der psychiatrischen Behandlung. Aber auch die Großstadt mit ihrer Drogenexposition, höheren Kriminalitätsraten, fragmentierten sozialen Systemen und dem hohen Anteil auch an Binnenmigration aus anderen Bundesländern führt zu einer höheren psychosozialen Belastung.

EPPENDOFER: Auch ihre Klienten werden älter.  Wie alt ist der älteste Patient hier?

KNECHT: 87

EPPENDORFER: Und noch mobil?

KNECHT: Ja, durchaus. Wir haben ein spezielles Schwerpunktprogramm und die Zahl über 65 Jährigen total vermindert auf aktuell 14. Das dürfte deutschlandweit die geringste Anzahl gerontopsychiatrischer Forensik-Patienten sein. Das geht, weil wir besonders intensiv nach Plätzen in Heimen suchen. Die können dann von dort zu uns in die Ambulanz kommen, und wir gehen auch in die Heime.   

EPPENDORFER: Sie verlassen Ochsenzoll bald, gehen zum Jahresende in Rente – und es gibt mit Dr. Annette Claßen auch schon eine Nachfolgerin (s. Seite 9) – Bleiben Sie anschließend noch weiter als Gutachter oder Therapeut beruflich aktiv?  

KNECHT: Was ich dann mache, ist noch nicht klar. Geplant ist eine Rückkehr nach Wien. Es gibt erste Enkelkinder zu beaufsichtigen. Dann  bin ich ein passionierter Schachspieler, und ich will  reisen … 

EPPENDORFER: Sie sind 2000 hier angekommen, in einer schwierigen Lage. Was hat Sie in all der Zeit besonders beeindruckt?

KNECHT: Der in Ochsenzoll vorhandene Wille, was an fachlichem Wissen in der Psychiatrie erforscht ist, auch in der Praxis umzusetzen. Ich kam ja von der Uniklinik Wien.  Wir haben unglaublich viel nachrüsten können, die Risikoeinschätzung komplett auf neue Beine gestellt und ein permanentes Wissensmanagement etabliert. Heute haben wir fabelhafte Betriebsergebnisse, sind in allen Outcome-Variablen besser geworden. Und heute ist es sicherer in der Forensik zu arbeiten als in der Allgemeinpsychiatrie. Auch die Größenentwicklung war enorm. Als ich kam, war Eickelborn mit 330 Patienten die größte forensische Klinik in Deutschland, hier gab es damals 100 Betten. Jetzt sind hier 390 Patienten und wir möchten gerne wieder zugunsten der Ochsenzoller Allgemeinpsychiatrie schrumpfen.

EPPENDORFER: Fühlten sie sich in HH ausreichend unterstützt von der Politik ?

KNECHT: Eigentlich schon. HH ist ja eine unhysterische, vernünftige Stadt, da kann man gut arbeiten. 

EPPENDORFER: Was bleibt als ihre größte Sorge? 

KNECHT:  Die Lage der chronisch erkrankten schizophrenen Patienten in Hamburg. Trotz aller Bemühungen ist es leider nicht gelungen, deren Stigmatisierung wesentlich zu verbessern. Und im zunehmend elektiv und ambulant organisierten psychiatrischen Versorgungssystem drohen sie zunehmend ihre Behandlungsbasis zu verlieren. Im letzten Jahr 2022 waren von allen neu in der Forensik aufgenommenen Patienten 85 Prozent an einer schizophrenen Störung erkrankt. Deren Anteil lag früher bei 50 Prozent. Anke Hinrichs