Impfen: Unterstützung gesucht!

Viele psychisch kranke Menschen brauchen Begleitung und Unterstützung - auch auf dem Weg zum Impftermin. Symbolfoto: pixabay

Reize drohen sie zu überfluten; mit ADHS und Autismus-Spektrum-Störung im Gepäck, hat Kristina Meyer-Estorf Probleme, Wichtiges und Unwichtiges zu filtern, und sie benötigt klare Strukturen im Alltag. Dazu leidet sie schwer an COPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung). Corona war für die 44-Jährige daher nicht nur körperlich extrem bedrohlich, sondern auch psychisch besonders herausfordernd, da sie sich wegen der lebensbedrohlichen Gefahr einer Ansteckung ein Jahr lang komplett isoliert hat. Umso froher ist sie über ihren Impfschutz. Um den zu erlangen, war sie auf Unterstützung angewiesen – und viele andere mit psychischen Beeinträchtigungen sind es auch, bekommen sie aber nicht unbedingt, weiß sie aus ihrer Erfahrung als Coach von Betroffenen. Für den Expertenrat* wirbt sie daher für mehr Begleitung und Unterstützung sowie Entängstigung psychisch kranker Menschen sowie für Vor- und Nachbereitung von Impfterminen.    

Kristina Meyer-Estorf wirbt für Unterstützung bei der Wahrnehmung von Impfterminen. Foto: screenshot/ hin

Kristina Meyer-Estorf war froh, ihren Vater – einen Mediziner – dabei zu haben, als sie Mitte April das Impfzentrum betrat, in der Tasche einen Nachweis über ihre Lungenkrankheit als Voraussetzung für die  Priorisierungsgruppe 2. Sie bekam einen Asthmaanfall, der Vater musste beim Impfarzt für sie argumentieren. Sie kenne Menschen, „die wegen mehrerer medizinischer Probleme längst geimpft hätten werden sollen, sich aber nicht zum Arzt trauen“, sagt Kristina Meyer-Estorf.  „Manche wirken zu fit, weil sie krankheitsbedingt immer versuchen, sich anzupassen. Einige trauen sich den Weg nicht zu und holen sich deshalb keinen Termin.“ Eine Klientin von ihr könne nicht telefonieren, zählt sie weitere Einschränkungen auf.  

Einige trauen sich den Weg nicht zu …

„Körperliche Einschränkungen werden erkannt, aber psychische Behinderungen sind unsichtbar“, macht sie deutlich und wirbt auch für eine Begleitung bis in Arztzimmer. „Viele Betroffene sind blockiert, wenn sie vor einem Arzt sitzen und können schwer für sich sprechen.“ Benötigt würden Dolmetscher zwischen beiden Welten. Experten in eigener Sache seien dabei als Fürsprecher ideal, meint sie, da die beide Seiten kennen.

Leider seien Ärzte und Therapeuten gerade ihnen gegenüber oft besonders skeptisch, bedauert sie. Bezüglich des Impfens sei auch die Angst vor Nebenwirkungen groß, weshalb sie Vor- und Nachbereitung für so wichtig erachtet. Sie selbst habe nach der ersten Impfung vier Tage lang Nebenwirkungen („wie eine Mini-Erkältung“) gespürt. Nach der zweiten litt sie mehrere Tage an Ausschlag und Nervenschmerzen. „Die Nebenwirkungen sind nicht schön, aber ich möchte die Blumen auch nicht von unten angucken“, sagt sie dazu – auch zu den ImpfskeptikerInnen, denen sie auch häufiger begegnet, gerade unter Zwangserkrankten, bei denen viele zum Beispiel Angst äußerten, sich zu infizieren. Viele Betroffene seien sehr „internetaffin“ und würden sich auf skurrilen Seiten informieren.

Wie geht sie als Coach damit um? „Ich verweise auf meine Selbstfürsorge.“ Weil sie sich selbst schützen müsse, verlangt sie von ihren impfskeptischen Klienten Tests – bei diesen auch nicht beliebt. „Jeder ist frei in seiner Entscheidung, ich spreche von mir und nehme damit einigen die Angst.“ Sie jedenfalls freute sich über ihre neue Freiheit nach der vollständigen Impfung. Besonders froh war sie, endlich wieder mit Freunden essen gehen zu können. Seit dem 18. März vorigen Jahres hatte sie sich wegen ihrer schweren Vorerkrankung mitsamt Hund Jack komplett isoliert. Ihren Geburtstag feierte sie draußen: mit  Partner, Picknick – und vorgeschriebenem Sicherheitsabstand. (hin)

* Der Expertenrat

Der Expertenrat Seelische Gesundheit ist ein Hamburger Zusammenschluss von psychiatrieerfahrenen Menschen, der seit 2016 existiert. Er fordert die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auch im Bereich der Psychiatrie und möchte die Sicht der Selbsthilfe in psychiatriepolitische Entscheidungen in Hamburg stärker einbringen.

Aktuell sind der Aktionskreis 71 für Soziale Psychiatrie Selbsthilfe e.V., der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener sowie die Deutsche Gesellschaft für Zwangserkrankungen e.V. ein fester Bestandteil der monatlichen Sitzungen im Gremium. Zusätzlich wirken der GBPH, die Selbsthilfegruppe Autismus/Querdenker, der EX-IN Hamburg e.V. sowie die Erwachsenen-Selbsthilfegruppe ADHS Hamburg als „Experten in eigener Sache“ mit. Bisherige Erfolge konnte der Expertenrat durch die trialogische Besetzung der Aufsichtskommission nach §23 des Hamburgischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten sowie durch die Mitwirkung in den Stellen der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung in ganz Hamburg verzeichnen.

Der Expertenrat trifft sich immer am dritten Freitag im Monat von 15 bis 17 Uhr unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Hamburg. Aufgrund der aktuellen Pandemieeinschränkungen finden die Sitzungen derzeit online statt. „Wir würden uns über Unterstützung und Mitgestaltung von weiteren psychiatrieerfahrenen Menschen und deren Angehörigen freuen“, so der Expertenrat. Interessierte können sich bei den Sprechern Jurand  Daszkowski (jurand. daszkowski @web.de) oder Hinrich Niebuhr (hinrich.niebuhr@gmx.de) melden und an einer Sitzung teilnehmen: „Wir freuen uns auf zahlreiche Anfragen!“     (rd)