Verschickung: Im
Schatten der Angst

Adolfinenheim (im Vordergrund) auf Borkum (Foto um 1966). Das Adolfinenheim steht fuer ein typisches deutsches Kindererholungsheim der Nachkriegszeit. Ueber einen Zeitraum von 75 Jahren wurden bis 1996 etwa 90.000 Jungen und Maedchen aus vielen Teilen Deutschlands zur Erholung oder auch zur Therapie in das Haus geschickt, unter anderem aus Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Ziel war es, die Kinder "aufzupaeppeln", weil sie in den Augen der Erwachsenen - Aerzte, Eltern oder Lehrer - zu blass, zu duenn oder auch zu dick waren. Foto: epd

Eigentlich sollten sie aufgepäppelt werden. Doch was Kinder im Nachkriegsdeutschland in Kurheimen erlebten, hat sie nicht selten traumatisiert. Das zeigt jetzt exemplarisch auch eine Dokumentation über das Adolfinenheim auf Borkum.

An die Sache mit der Taschenlampe kann sich Hans-Georg Bierbass noch gut erinnern. „Ich las mit der Taschenlampe unter der Decke und bin dabei erwischt worden“, berichtet der Kölner, der 1972 im Alter von zehn Jahren für sechs Wochen in das diakonische „Adolfinenheim“ auf die Nordseeinsel Borkum verschickt wurde. Zur Strafe musste er dann nachts auf dem gekachelten Fußboden im Waschraum schlafen – ohne jede Decke oder Unterlage, nur im Schlafanzug.

Das Adolfinenheim steht für ein typisches deutsches Kindererholungsheim der Nachkriegszeit. Über einen Zeitraum von 75 Jahren wurden bis 1996 etwa 90.000 Jungen und Mädchen aus vielen Teilen Deutschlands zur Erholung oder auch zur Therapie in das Haus geschickt, unter anderem aus Bremen, Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Ziel war es, die Kinder aufzupäppeln, weil sie in den Augen von Ärzten, Eltern oder Lehrern zu blass, zu dünn oder auch zu dick waren. Kinder-, Haus- oder Schulärzte verschrieben die Kuren.

Lieblose Behandlung, Angst und Zwang

Doch statt der erhofften Erholung erlebten viele der „Verschickungskinder“ lieblose Behandlung, Angst und Zwang. Exemplarisch zeigen die Bremer Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht und ihr Kollege Achim Tischer nun in einer Dokumentation, die unterstützt vom Diakonischen Werk und der evangelischen Kirche in Bremen entstanden ist, wie sehr die Kinder unter der schwarzen Pädagogik der Kurheime litten.

„Zwischen Erholung und Zwang“ lautet der Titel des Buches, für das die Historiker unter anderen mit Hans-Georg Bierbass gesprochen haben. Gefühle von Angst und Ohnmacht hätten seine Zeit im Adolfinenheim geprägt, erinnert sich der heute 61-Jährige. Das Selbstwertgefühl des damals schmächtigen Jungen, der sich bei der Abfahrt noch „völlig gesund“ fühlte, verwandelte sich in Wut und Hilflosigkeit. „Wut und Hilflosigkeit darüber, dass die Bediensteten mit uns machen und lassen konnten, was sie wollten – und wir keine Chance hatten, uns dagegen zu wehren.“

Die Bediensteten, das waren lange Zeit vor allem Schwestern aus dem Bremer Diakonissen-Mutterhaus. Ihre Machtposition und ihr autoritär-konservativer Erziehungsstil hätten die Atmosphäre im Haus geprägt, schildert Tischer: „Hinter den Mauern des völlig abgeschotteten Hauses praktizierten die Diakonissen mit dem ihnen unterstellten Personal über Jahrzehnte hinweg eine schwarze Pädagogik.“

Haare ziehen, Schläge auf Kopf und Gesäß, Einsperren

Dazu gehörten ein scharfer Umgangston, grobes Vorgehen beim Kämmen, Haare ziehen, leichte Schläge auf den Kopf, schwere Schläge mit der offenen Hand auf das Gesäß, Einsperren in dunklen Räumen, nächtliches Aussperren in der kalten Dusche ohne Kleidung – und immer wieder Demütigungen. So wurden Bettnässer öffentlich an den Pranger gestellt. Hans-Georg Bierbass berichtet: „Ein Junge, der ins Bett gemacht hatte, musste sich morgens mit dem nassen Bettlaken auf das Bett stellen und unendlich lange das Laken hochhalten. Wenn man abends ins Bett ging, hatte man also immer Angst und dachte: Hoffentlich passiert mir das nicht.“

Ähnliche Schikanen und Übergriffe hat die gebürtige Bremerin Ulrike Bergmann-Seifert erlebt. Sie war 1966 für acht Wochen auf Borkum und erinnert sich an seelische Brutalität und entsetzliches Heimweh. „Im Adolfinenheim ging es um das Verwalten von Kindern, nicht ums Umsorgen“, bringt sie es auf den Punkt. Das habe Spuren hinterlassen – bis heute. „Ich habe zum Beispiel große Probleme, mich auf andere zu verlassen“, sagt sie und ist überzeugt: „Das resultiert sicherlich auch aus dieser Zeit.“

Traumatisierendes Grundrauschen des Heimalltags

Sie habe jahrelang nicht darüber gesprochen, was auf Borkum passiert sei, ergänzt Ulrike Bergmann-Seifert. Überhaupt: Niemand fragte, was in den Kurheimen geschah, die Kinder trugen ihr Leid im Stillen – millionenfach. Mittlerweile gehen Betroffene selbst an die Öffentlichkeit und erzählen beispielsweise auf der Webseite www.verschickungsheime.de von ihren teils dramatischen Erlebnissen.

Dabei zeigt sich: Was auf Borkum geschah, waren keine Einzelfälle und wurzelte in einer Gesellschaft, in der strenge und auch gewalttätige Erziehung genauso wie die Demütigung von Kindern zum Alltag gehörten. Die Berichte von Hans-Georg Bierbass und Ulrike Bergmann-Seifert zeigten eindrucksvoll das traumatisierende Grundrauschen des Heimalltags während der Kuren, resümiert Tischer. Die Dokumentation biete den verletzten Kinderseelen möglicherweise „die Chance, aus dem Nebel zu steigen und besser damit umzugehen“. Dieter Sell (epd)