Die Dresdnerin Elfriede Lohse-Wächtler (1899–1940) zählt zu den wichtigen künstlerischen Stimmen des frühen 20. Jahrhunderts. Zu ihrem 125. Geburtstag zeigt das Ernst Barlach Haus in Hamburg noch bis zum 9. Februar 2025 eine Ausstellung mit annähernd 100 Werken der Künstlerin aus 25 öffentlichen und privaten Sammlungen. An ihrem Geburtstag am 4. Dezember gestalten Hildegard Schmahl und andere SchauspielerInnen einen festlichen Abend mit Musik, Tanz und Texten (Karten an der Museumskasse oder unter info@barlach-haus.de). Beginn ist um 19 Uhr. Unterstehenden Text über Leben und Leiden der Künstlerin veröffentlichte der EPPENDORFER in seiner Printausgabe 5/2016.
Demütigungen, psychische Krankheit, von den Nazis ermordet …
Sie war selbstbewusst, unangepasst und mutig – und hatte ein begnadetes künstlerisches Talent: Elfriede Lohse-Wächtler. Das Leben spielte ihr jedoch übel mit: es war geprägt von Demütigungen, großer materieller Not und schließlich psychischer Krankheit. Am 31. Juli 1940 vergasten die Nazis sie im Rahmen der Krankenmordaktion „T4“ in Pirna-Sonnenstein. Im AK Eilbek wurde der wiederhergestellte Rosengarten nach Elfriede Lohse-Wächtler benannt, um an das Schicksal einer außergewöhnlichen Frau zu erinnern, die auch an diesem Ort ihre Spuren hinterließ: 1929 war sie sieben Wochen lang Patientin in der Psychiatrie der damaligen Staatskrankenanstalt Friedrichsberg und schuf sensible Kohleportraits ihrer Mitpatientinnen – die „Friedrichsberger Köpfe.“ Ihre Biographie vermittelt das Bild einer faszinierenden Persönlichkeit – und erinnert schmerzlich an die dunkelste Zeit der deutschen Psychiatrie.
Am 4. Dezember 1899 wird Anna Frieda Wächtler in Löbtau bei Dresden in kleinbürgerliche Verhältnisse hineingeboren. Sie will Elfriede genannt werden, da sie ihren Taufnamen nicht mag. Nach Beendigung der Bürgerschule beginnt die künstlerisch hochbegabte im Herbst 1915 ein Studium an der Dresdner Königlichen Kunstgewerbeschule. Im Herbst 1916 wechselt sie jedoch – gegen den Willen ihres Vaters, der für sie eine Ausbildung zur Bühnenbildnerin und Kostümschneiderin ins Auge gefasst hat – in die Fachklasse „Angewandte Graphik.“ Kurz darauf zieht die erst 16-Jährige aus der elterlichen Wohnung aus – für die damalige Zeit mutig. Sie verdient sich ihren Lebensunterhalt mit kunstgewerblichen Arbeiten und Gebrauchsgraphik – und entscheidet sich, fortan als freischaffende Künstlerin zu arbeiten.
Radikal bricht sie mit dem herrschenden Weiblichkeitsideal
Im Jahr 1917 findet Elfriede Wächtler Kontakt zum Dresdner Künstlerfreundeskreis um Conrad Felixmüller und Otto Dix, der sie in ihren Arbeiten beeinflusst. Radikal bricht sie mit dem herrschenden Weiblichkeitsideal: Sie schneidet sich die Haare ab, trägt fortan ungewöhnliche, selbstgeschneiderte Kleidung, raucht Pfeife und gibt sich den männlichen Namen Nikolaus. In der revolutionären Nachkriegszeit ist sie nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch offen, steht revolutionären Veränderungen in der Gesellschaft aufgeschlossen gegenüber. Ihre Wohnung wird beliebter Treffpunkt der Dresdner Künstlerszene. Sie selber entwickelt einen eigenständigen Stil in ihren expressionistischen Ölbildern, Graphiken, Aquarellen, Radierungen, Holzschnitten und Lithografien.
Das Jahr 1919 wird für Elfriede Wächtler schicksalhaft. Sie verliebt sich in den Sänger und Maler Kurt Lohse. Von Anfang an steht die Verbindung unter keinem guten Stern – zu verschieden sind ihre Charaktere. Dennoch heiraten beide am 6. Juni 1921 in Dresden. Sie ziehen in die Sächsische Schweiz oberhalb von Wehlen, führen ein freies und ungebundenes Leben – jedoch hauptsächlich auf Pump. Der Gerichtsvollzieher beendet diese Episode. Während ihr Mann Engagements an kleinen Stadttheatern annimmt, zieht Elfriede Lohse-Wächtler vorübergehend sogar in ihr Elternhaus. Sie steht aber weiter in Kontakt mit Künstlerkollegen wie Otto Griebel, der noch 30 Jahre später von einem Nackttanz während eines Künstlerfestes zu berichten weiß: „Plötzlich zog Laus alle Sachen runter und tanzte splitternackt mit der Tabakspfeife zwischen den Zähnen vor uns. Laus konnte sich so etwas unbeschadet leisten, sie war exzentrisch, ihr gefiel alles außergewöhnliche, aber nie das Gemeine, und dieser Nackttanz war großartig und gar nicht ordinär.“ 1925 folgt Elfriede Lohse-Wächtler ihrem Mann, der nun Chorsänger am Stadttheater ist, nach Hamburg.
Kurt Lohse zieht mit seiner Geliebten zusammen, sie bekommt fünf Kinder von ihm
Die ersten Hamburger Jahre sind geprägt von wirtschaftlicher Not und den Seitensprüngen Kurt Lohses. 1926 folgt erneut eine Trennung, Lohse zieht mit seiner Geliebten zusammen, die im Februar 1927 das erste von fünf gemeinsamen Kindern bekommt. Für Elfriede Lohse-Wächtler, die aus wirtschaftlichen Gründen mehrfach abgetrieben und eine Fehlgeburt erlitten hatte, ein tiefer Schock. Von nun an gehts mit ihr bergab. Ihre Verdienstmöglichkeiten sind sehr schlecht, beim Senat erbittet sie finanzielle Unterstützung. Im Januar 1929 zeigen sich mit übersteigerter Nervosität und Verfolgungswahn erste Symptome einer psychischen Erkrankung. Ihr Bruder stellt fest, dass sie zu keinem Menschen vernünftig sprechen kann und keine vernünftigen Gedanken mehr hat. Er und der Künstlerfreund Johannes Baader bringen sie am 4. Februar 1929 in die Staatskrankenanstalt Hamburg-Friedrichsberg. Baader schreibt an Otto Dix: „Wären Geld und Haus und Menschen, die sich ihr ausschließlich widmen konnten, vorhanden gewesen, so hätte sich die Einweisung in die Psychiatrische Klinik (vielleicht) erübrigt. Das Einschnappen in die pathologische Situation ist ausgelöst worden durch das allmählich eingetretene völlige Versagen jeder Existenzmöglichkeit; dazu kam das Ringen zwischen Kurt Lohse und ihr, und die Notwendigkeit, den Besitz von K.L. (dem sie zutiefst und unauflöslich verknüpft ist) mit einer anderen Frau zu teilen. So rettete sie sich, wie der psychologische Terminus lautet, in die Krankheit.“
„So rettete sie sich in die Krankheit'”
In Friedrichsberg wird sie nach der Aufnahmeuntersuchung in einem großen Saal untergebracht. Die ersten vier Wochen muss sie gegen ihren Willen im Bett bleiben. Die erhalten gebliebene Krankengeschichte gibt Aufschluss über ihren Zustand: Sie läuft viel im Saal umher, ist zerstreut, stimmungslabil und weinerlich, leidet unter Entzugserscheinungen, da sie nicht rauchen darf. Sie trägt sich mit Ausbruchsabsichten, schmiedet Fluchtgedanken. Drei Tage nach der Einweisung beginnt sie jedoch zu zeichnen – Mitpatientinnen und Ausblicke aus dem Krankenzimmer. Schnell entstehen 60 Zeichnungen und Pastelle. Die Kopf- und Halbkörperporträts zeigen leidende, verwirrte und debile Menschen und zeugen von ihrer großen inneren Anteilnahme. Diese und die später in der Psychiatrie Arnsberg geschaffenen Arbeiten sind kunsthistorisch einmalig, denn, so die Kunsthistorikerin Hildegard Reinhardt, „es ist kein anderer Fall bekannt, indem eine Malerin während der eigenen Hospitalisierung die Verbildlichung psychisch Kranker zu ihrem Thema erhob.“
Nach sieben Wochen wird Elfriede Lohse-Wächtler stabilisiert entlassen. Aufgrund der kurzen Verweildauer ist der Stationsarzt unsicher über die Diagnose. Er schreibt: „Schizophrenie? Transitorische Psychose einer Instabilen?“ Zunächst scheint sich jedoch alles zum Guten zu wenden. Mit den „Friedrichsberger Köpfen“, die in einem Hamburger Kunstsalon gezeigt werden, wird sie über Nacht bekannt und erhält gute Kritiken. Endlich schafft sie es, sich von ihrem Mann zu trennen. Es folgen produktive Jahre, in denen sie in die Hamburger Halbwelt abtaucht. Elfriede Lohse-Wächtler zeichnet in Amüsierlokalen und Bordellen, porträtiert treffsicher das Milieu der Huren. Doch das Leben im gesellschaftlichen Randbereich führt zur Isolation und Vereinsamung. Psychisch geht es ihr immer schlechter, Selbstporträts zeigen ihren Verfall. Hinzu kommt Drogenmissbrauch und existenzielle Not: 1931 wird sie obdachlos, muss in Bahnhofswartehallen übernachten. So muss die so früh Ausgezogene wieder um Aufnahme in ihr Elternhaus bitten. Dort flammen alte Spannungen wieder auf. Bald betreibt der Vater ihre Einweisung in die Landesanstalt Arnsdorf.
1935 wird sie zwangssterilisiert – was folgt ist physische Vernichtung …
Am 17. Juni 1932 wird Elfriede Lohse-Wächtler in Arnsdorf eingeliefert. Der zuständige Stationsarzt diagnostiziert – offenbar ohne weitere Prüfung – Schizophrenie. In den ersten drei Jahren bleibt sie vielseitig künstlerisch tätig – fertigt Porträts von Ärzten, Kranken-
schwestern und Patienten, schneidert nach eigenen Entwürfen und Schnitten Kleider und Kostüme. Bei Ausflügen mit ihren Eltern und mehrwöchigen Sommerurlauben genießt sie ein letztes Stück Freiheit. Sie mag dabei aber bereits von den Ausstellungen „Entarteter Kunst“ erfahren haben, in denen auch Felixmüller und Dix diffamiert wurden. Mit der Zwangssterilisation am 20. Dezember 1935 starten die Nazis den ersten Akt des Vernichtungswerkes gegen Elfriede Lohse-Wächtler. Ihre Persönlichkeit ist danach wie ihre künstlerische Kreativität zerstört. Was folgt, ist die physische Vernichtung: Die Rationen werden in der Anstalt herabgesetzt, der Hungertod der Insassen ist die erwünschte Konsequenz. Elfriede Lohse-Wächtler überlebt – bis zum 31. August 1940, als sie nach Sonnenstein transportiert und vergast wird.
Die umfangreiche Krankengeschichte Elfriede Lohse-Wächtlers aus Arnsdorf ist verschollen. Was bleibt, sind Spekulationen über ihre Krankheit. Der Ärztliche Leiter Hubert Heilemann vermutete 1999 „eine durch Drogenabusus und zusätzlich psychisch belastende Lebensumstände ausgelöste schizophrene Psychose bei vorbestehender Disposition“. Die Grausamkeit des an ihr begangenen Verbrechens mache eine Diagnose aber irrelevant. Nach dem Krieg wird Elfriede Lohse-Wächtler immerhin als Künstlerin wiederentdeckt. Ihr Name steht heute für ein herausragendes künstlerisches Werk – aber auch für 120000 psychisch kranke und behinderte Menschen, die von den Nazis ermordet wurden. Michael Freitag
Quellen: Boris Böhm: „Ich allein weiß, wer ich bin – Elfriede-Lohse-Wächtler, 1899-1940. Ein biografisches Porträt, Pirna 2003, Hrsg. Gedenkstätte Sonnenstein e.V. sowie Ausstellungs- und Museumsschriften.
Einen weiteren Bericht aus dem Jahr 2019 lesen Sie hier.