Serie Heimkinder III: Medizin ohne Mitleid

Eine äußerst schmerzhafte und gefährliche neuroradiologische Untersuchungsmethode: Bei der Pneumenzephalographie („Hirnkammerluftfüllung“) wird mit Hilfe einer langen Hohlnadel Liquor aus dem Gehirn abgelassen und Luft in die Liqorräume injiziert. Der Kontrast zwischen Luft und Gewebe ermöglicht Röntgenaufnahmen des Gehirns. Anfang der 1970er-Jahre wurde die Methode durch die Computertomographie ersetzt. Was kaum bekannt ist: „Bis dahin sind bundesweit Tausende von Heimkindern in der Bundesrepublik auf diese Weise untersucht worden“, sagt Sonja Toepfer.  Die Wiesbadener Filmemacherin untersucht in ihrem Dokumentarfilm „Kopf Herz Tisch 3– Die psychiatrisierte Kindheit“ die Rolle der Medizin in der Fürsorgeerziehung von 1950 bis 1975.

Im Mittelpunkt stehen die Anstalten Hephata im hessischen Treysa, wo sie neben Medikamentenmissbrauch auch die Praxis der Pneumenzelographie in jenen Jahren thematisiert. „Es war Usus, affektlabile Kinder medikamentös ruhigzustellen“, sagt sie. Und mit Hilfe der Pneumenzephalographie habe man versucht, hirnorganische Veränderungen als Ursache abweichenden Verhaltens zu diagnostizieren. „Es hat sich dabei allerdings nicht um ,Menschenversuche‘ an Heranwachsenden gehandelt“, räumt die Filmerin ein.

Zur Pneumenzephalographie habe es damals zwei Denktraditionen gegeben: Neben der psychiatrischen Fraktion, die sich von dieser Methode hirnorganische Erkenntnisse beispielsweise bei Verhaltensauffälligen, Straffälligen und Alkoholikern versprach, habe es jene Mediziner gegeben, die diese Methode auf die Diagnose körperlicher Hirnveränderungen beispielsweise durch Tumorerkrankungen beschränkten. „Die Haltung zum Umgang mit widerspenstigen Kindern war also das Entscheidende“, so Sonja Toepfer. Die Befürworter auf psychiatrischem Gebiet, so ihr Vorwurf, seien wesentlich jene Ärzte gewesen, die sich bereits in der Nazi-Zeit einschlägig hervorgetan hätten, beispielsweise im Rahmen von Erbgesundheitsgutachten.

Dabei ist die Aussagekraft dieser Methode schon in den 1950ern umstritten gewesen. 1957 beispielsweise erklärte der Bundesgerichtshof die Pneumenzephalographie zu einer nicht ungefährlichen Untersuchung, die nur in Ausnahmefällen und dann nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit dem Patienten vorgenommen werden sollte. Trotzdem sei die Methode weiterhin von Medizinern eingesetzt worden, die für Kinderheime gearbeitet haben.

Im Film lässt Sonja Toepfer Zeitzeugen, Wissenschaftler und damals Beteiligte zu Wort kommen. Die Filmemacherin  berichtet, dass von 20 angefragten früheren Kinder- und Jugendpsychiatern, die  als Zeitzeugen hätten Auskunft geben können, nur eine  zum Interview bereit war, die Hamburgerin Charlotte Köttgen. Alle anderen hätten das Gespräch verweigert.

Sonja Toepfer hat „Kopf Herz Tisch 3“ im Auftrag der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau gedreht. Am 21. Juni wird er erstmals im Rahmen eines Heimkindertreffens in Evangelischen Akademie Arnoldshain gezeigt. Die Filmemacherin arbeitet weiter am Thema, jetzt ohne institutionelle Unterstützung. Als Crowdfunding-Projekt will sie Hirnuntersuchungen an Heimkindern im Nachkriegsdeutschland weiter aufdecken. (Infos: www.startnext.com/medizin-ohne-mitleid)  Michael Göttsche