Hanau, Schizophrenie
und die Angst

Es geht immer um Angst und ihre Bewältigung oder Abwehr. Symbolfoto: C. Falk / pixelio.de

Falls der rassistische Attentäter von Hanau an einer schizophrenen Psychose litt – Wie könnte eine psychotische Erkrankung mit dem tödlichen Handeln zusammenhängen und wie können rechtsextreme Parolen zu Wahngewissheit werden? Fragen an den Hamburger Psychiater, Psychotherapeuten und Supervisor Dr. Dietrich Eck. Er ist Mitbegründer und ehemaliger Leiter der Behandlungseinheit Schizophrenie am Asklepios Klinikum Nord Ochsenzoll.

EPPENDORFER: Der mutmaßliche Täter, der am 19. Februar in Hanau aus rassistischem und paranoidem Antrieb zehn Menschen getötet hat und danach sich selbst tötete, war offenbar schwer psychisch krank. Auf was für eine Erkrankung genau weisen die bisherigen Verlautbarungen über seinen Geisteszustand und seine eigenen Schreiben und -videos hin?


DR. DIETRICH ECK: Vorangestellt ist wichtig, dass nur ein Bruchteil der terroristischen Straftaten von Menschen mit einer manifesten psychotischen Erkrankung begangen werden. Der Großteil handelt aufgrund einer explizit rechtsradikalen, politischen Haltung.
Im Fall Hanau besteht bei dem Täter vermutlich – neben einer besonderen Persönlichkeitsausprägung – auch eine paranoid-halluzinatorische Psychose, eine Unterform der schizophrenen Erkrankung. Hier trifft die wörtliche Übersetzung von Schizophrenie als „Spaltungs- irresein“ besonders zu. Menschen mit dieser Erkrankung werden häufig erst später im Leben auffällig und können oft lange relativ „normal“ leben und arbeiten. Das ist die eine Seite. Davon regelrecht abgespalten gibt es gleichzeitig eine andere, paranoide Seite, die die Welt und die Geschehnisse als gegen sich gerichtet erlebt. Diese Menschen erleben zudem häufig auch akustische Halluzinationen – von außen wahrgenommene Stimmen, die ihnen Befehle geben oder ihr Verhalten kommentieren. Ein Teil der innerlichen Bedrohung kommt auch daher, dass Betroffene das Gefühl haben, andere Menschen könnten ihre Gedanken lesen oder ihre Gedanken breiten sich aus, sodass sie für alle öffentlich werden. Ein Teil ihres Rückzugs ist damit zu erklären. Aber da die Krankheit relativ spät ausbricht, sind – anders als bei jugendlichen oder jung erwachsenen schizophrenen Menschen – Alltagsfertigkeiten und lebensbewältigende Kompetenzen relativ gut ausgeprägt, sodass sie weniger auffallen.


EPPENDORFER: Wie schafft man es, jahrelang mit quälenden Stimmen im Kopf zu leben und zu arbeiten?


ECK: Das ist vor allem eine starke Konzentrationsleistung. Betroffene sagen, dass sie sich doppelt konzentrieren müssen, wenn sie Stimmen hören: auf das, was im Gespräch gesagt wurde, und darauf, parallel die Stimmen im Kopf in Schach zu halten ohne diesen laut – und auffällig – zu widersprechen.


EPPENDORFER: Wie erklären Sie die Entstehung der Erkrankung?
ECK: Dem Ganzen zugrunde liegt neben einer wahrscheinlichen genetischen Disposition und möglicherweise ungünstigen sozialen Umständen eine psychologische Komponente. Psychodynamisch betrachtet gehe ich davon aus, dass diesen Menschen in der frühen Elternbeziehung nicht ausreichend Halt und Sicherheit durch eine konstante, klare Spiegelung vermittelt wurde. Vermutlich haben verwirrendes oder uneindeutiges Verhalten der primären Bezugspersonen verhindert, dass sie ein sicheres Gefühl für sich selbst und die Umwelt entwickeln konnten.

„Ängste werden nur beherrscht, indem ein Grund dafür im Außen gefunden werden muss”


EPPENDORFER: Und daraus resultieren dann schwere Lebensängste?

ECK: Ja. Während wir in der Lage sind, mit unseren Ängsten umzugehen oder diese zu verdrängen, entwickeln sich bei diesen Menschen schwer beherrschbare existenziell bedrohliche Ängste. Diese werden dann nur beherrscht, indem ein Grund dafür im Außen gefunden werden muss. Sie heften ihre inneren Ängste gedanklich an einzelne Menschengruppen (z.B. Moslems oder Migranten) und erleben sie als Aggressoren. Sie beziehen das Handeln von Personen oder auch Geschehnisse direkt auf sich (etwa Fernsehübertragungen oder auch Meldungen aus Zeitungen). Und wenn die Ängste unerträglich werden, kann der Mechanismus soweit gehen, dass man vermeintlich gefährliche Personen attackiert, um so sich selbst von der eigenen inneren Angst zu befreien. Das kann für die Umwelt sehr überraschend kommen. Aber man muss dazu sagen und betonen, dass die allermeisten dieser Menschen sehr zurückgezogen und unauffällig leben und nicht gefährlich werden, sondern in der eigenen Gedankenwelt bleiben.
In der Tat ist es Studien zufolge sogar so, dass schizophren erkrankte Menschen mehr Gewalt erleiden als ausüben.


EPPENDORFER: Was kann Auslöser für so eine dramatische Tat wie in Hanau sein?


ECK: Auslöser für Gewaltausbrüche sind – wie bei anderen Menschen bzw. Tätern auch – oft krisenhaftes Stresserleben, zum Beispiel infolge von Trennungen, oder andere Labilisierungen in zwischenmenschlichen Bereichen.
Wenn sich ein Mensch in einer Krisensituation dann sicher ist, wer der – vermeintliche – Verursacher (seines Wahns) ist, wandelt sich die innere, fast unerträgliche Angst in eine gegen etwas gerichtete Angst, sodass er das Gefühl bekommt, die Ursache seines Befindens vor Augen zu haben. Das führt dann zunächst zu einer relativen Stabilisierung.


EPPENDORFER: Wie wird aus aggressiv-politischen Einstellungen und Ideen eine Wahngewissheit? Und wieso kann ein kranker Mensch offenbar so geplant agieren?


ECK: Die Inhalte des Wahns (meist Verfolgungsideen) richten sich bei dieser Erkrankung häufig an Themen der Zeit aus. Daher ist es nicht verwunderlich, dass verschwörungstheoretische Themen rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppierungen wie die Rede von „völkischer Beeinflussung“ und Antisemitismus in einen vorhandenen Wahn eingebaut werden können. Andere Themen sind zum Beispiel Geheimdienste oder Verfolgung durch Polizei oder Nachbarn. Oft reicht allein die Vorstellung der Planung und Ausführung einer Tat zur Stabilisierung aus. Wird die Labilisierung größer und reichen die innerpsychischen Bewältigungsmechanismen nicht mehr aus, muss der Plan möglicherweise in die Tat umgesetzt werden.

„Die Inhalte des Wahns (meist Verfolgungsideen) richten sich häufig an Themen der Zeit aus.”

EPPENDORFER: Eigentlich geht es immer nur um Angst und ihre Bewältigung bzw. Abwehr?


ECK: Ja, und das ist eigentlich ja auch nichts besonderes und im Prinzip auch nur ein gradueller Unterschied zu vermeintlich „normalen“ Menschen, die sich nur noch in ihren eigenen Wahrnehmungswelten bewegen und von dort bestätigen lassen, was sie ohnehin glauben, um sich in einer immer komplexeren, unübersichtlicheren Welt sicherer zu fühlen. Wo Schein-Wahrheit zu unverrückbarer Gewissheit wird und alles, was diese neue Sicherheit bedroht, als feindliche „Fake-News“ bekämpft wird.


EPPENDORFER: Wie groß ist die Gefahr, die von Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung ausgeht?


ECK: Schätzungsweise ein Prozent der Bevölkerung, rund 800.000 Menschen, erkranken an Schizophrenie. Nur bei einer Untergruppe tritt die Krankheit erst später im Leben auf. Richtig gefährlich wird nur ein sehr kleiner Teil, bei dem die innere Bewältigung dieser Problematik nicht mehr ausreichend funktioniert und die Konflikte und nicht aushaltbare Ängste häufig auch durch Selbsttötung oder auch durch Tötung anderer – oft enger Bezugspersonen – gelöst wird. Wobei Studien besagen, dass Gewaltausbrüche nicht wesentlich häufiger auftreten als in der Allgemeinbevölkerung. Es erkranken auch nicht alle so schwer. Grundsätzlich gibt es im Prinzip drei Verläufe: Bei einigen wechseln sich wiederkehrende Episoden mit gesunden Phasen ab, andere erkranken nur einmal, wieder andere werden chronisch krank. Diese werden dann dauernd von innerer Bedrohung angefeuert oder verflachen immer mehr emotional und ziehen sich aus sozialen Kontakten zurück. Gerade letzteres ist auch medikamentös schwer behandelbar.


EPPENDORFER: Wie ist die Gefahr von Rechtspopulismus und völkischem Ideengut in Teilen der AfD vor diesem Hintergrund zu bewerten?


ECK: Die Feindbilder insbesondere der Höcke-AfD und die damit verbundene Hetze können bei Menschen mit dieser Erkrankung die Inhalte von Wahnideen mitbestimmen und verstärken. Zudem könnten sich manche Personen als Auserwählte sehen, Gedankengänge und Parolen dieser Art in die Tat umzusetzen. Dadurch wird Gewalt bei Menschen provoziert, die wegen ihrer Erkrankung vor Gericht möglicherweise als schuldunfähig eingestuft würden. Wobei die – öffentlich geäußerte – Schlussfolgerung, rechtsextreme Gewalttaten würden nur von Verwirrten und psychotisch Erkrankten verübt, falsch ist und eine Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit psychischer Erkrankung bedeutet. Es besteht die Gefahr, dass rechtsradikal motivierte Straftaten psychotisch kranken Menschen in die Schuhe geschoben werden, um eigene Verantwortung von sich zu weisen. Rechtsradikale Taten werden als Taten verwirrter Menschen dargestellt, um so eine Mitverantwortung im Reden und Handeln abzuwehren. Die allermeisten rechtsextremen Straftäter sind nicht im oben geschilderten Sinne krank und für ihre Taten voll verantwortlich!


EPPENDORFER: Was kann die Gesellschaft tun?


ECK: Menschen mit dieser Erkrankung nicht gesellschaftlich ausgrenzen, sondern Kontakt suchen und gegebenenfalls medizinische und therapeutische Hilfe anbieten. Wenn ein Betroffener sich zurückzieht: gucken, was los ist. Sozialer Rückzug muss bemerkt werden!
Grundsätzlich sollte man in der öffentlichen Diskussion Feindbilder und Hetze vermeiden und sorgsam mit Sprache umgehen. Man muss sich der Gefahr bewusst sein, dass Worte immer auch Nährboden für gewaltsame Handlung sein können – und das gilt für alle Menschen, nicht nur die mit einer psychotischen Erkrankung.
Interview: Anke Hinrichs

(Anmerkung: Text wurde am 8. März aktualisiert bzw. ergänzt)