Das Thema Genesungsbegleiter nimmt immer weiter Fahrt auf. Spätestens seit Verankerung als Teil des therapeutischen Teams innerhalb der aktuellen Krankenhaus-Richtlinie (PPP-RL) und Empfehlung in der S3- Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ werden ausgebildete Experten aus Erfahrung gesucht – und sind insbesondere im Flächenland Schleswig-Holstein teils schwer zu finden. Das soll nun besser werden: Die bislang einzige EX-IN*-Ausbildungsmöglichkeit im Bundesland in Neumünster soll 2021 um einen weiteren Standort in Lübeck ergänzt werden. Ziel: Peer-Personal für Kliniken und Einrichtungen im ostholsteinischen Raum auszubilden. Doch es mangelt nicht nur an Qualifizierung, sondern insbesondere an einer strukturierten finanziellen Förderung der Ausbildung, wie eine Ausbildungskandidatin bei einem Pressegespräch im AMEOS Klinikum Lübeck am eigenen Beispiel verdeutlichte.
„Ein sehr spannendes Projekt“, kommentiert Stephan Klüver, Pflegerische Standortleitung im AMEOS Klinikum Lübeck, das Vorhaben, Genesungsbegleiter in die Teams in Lübeck zu integrieren. Er arbeitet seit 1984 als Krankenpfleger und hat noch die „Verwahrpsychiatrie“ erlebt. Dass Ex-Patienten anderen Patienten offiziell und bezahlt bei der Genesung helfen, hätte sich in den 90ern keiner vorstellen können. Für den sozialpsychiatrisch orientierten leitenden Oberarzt Dr. Rüdiger Arnold, seit 2007 im Lübecker AMEOS Klinikum an Bord, ist es eine Herzensangelegenheit, Betroffene auf Augenhöhe ins Versorgungssystem zu integrieren. Das Peer-Projekt soll andere – auf einem systemischen Menschenbild aufbauende – Innovationen flankieren wie die „reflecting team visite“, Behandlungskonferenzen, Angehörigenvisiten in der Gerontopsychiatrie sowie das Ziel, gemeinsam mit der Lübecker Unipsychiatrie ein Konzept für offene Akutstationen zu entwickeln. Insbesondere das AMEOS Klinikum Lübeck sucht seit langem Genesungsbegleiter.
Kursus soll 2021 starten
Das Ausbildungsprojekt hat indes seine Wurzeln in der Selbsthilfe, sprich bei der Kontakt- und Informations-Stelle für Selbsthilfegruppen (KISS) Lübeck, wo allein rund 25 Gruppen mit psychischen Themen angedockt sind. Über einen Vortrag wuchs Interesse am Thema. Trägerübergreifend veranstalteten dann die Brücke Lübeck, AMEOS und KISS mehrere Info-Nachmittage, über die inzwischen rund 20 Interessenten gefunden wurden, die im Herbst zu Vorbereitungsterminen eingeladen werden. Der Kurs selbst soll 2021 starten. Wie in Neumünster wird die DGSP SH als Träger agieren und die Federführung bei Ilse Achberger liegen, die von weiteren Trainern bzw. Referentinnen unterstützt wird.
Große Finanzierungsprobleme
Das dickste Brett bleibt aber die Finanzierung: Es gibt überall Probleme und nicht nur bundesweit große Unterschiede – wobei es nach Auskunft von Ilse Achberger in Bayern, Hamburg und Bremen gut funktioniert – sondern auch regional. So übernähmen die Kreise Segeberg und Ostholstein EX-IN-Ausbildungskosten, Kiel und Flensburg in Einzelfällen. Lübeck dagegen stellt Betroffene vor große Herausforderungen, wie das Beispiel Bianca Rudloff deutlich macht: Die depressionserfahrene Vorsitzende des Vereins zur Förderung der Teilhabe in Lübeck e.V. – Trägerin der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB ®) in Lübeck – bezieht befristet Erwerbsunfähigkeitsrente und wollte einen EX-In-Kurs in Hamburg besuchen. Für die Finanzierung der Ausbildungskosten in Höhe von 2200 Euro stellte sie einen Antrag auf Persönliches Budget bei der Sozialsicherung der Stadt Lübeck. „Ich dachte, das ginge durch, ich war mir so sicher“, berichtet sie. Die Teilnehmerinnen aus Hamburg hätten das Geld alle vom Sozialhilfeträger bewilligt bekommen. Doch es begann ein mühsamer Kampf, den die ausgebildete Busfahrerin letztlich verlor. Erst fühlte sich die Stadt nicht zuständig, berichtet sie. Weiterleitungen an Arbeitsamt und Rentenversicherung fruchteten auch nicht, und nachdem ein erster Antrag abgelehnt und ein zweiter unbeantwortet geblieben sei und sie dann selbst eine Frist für den Klageweg knapp verpasste, gab sie auf. Sie finanziert die Ausbildung nun auf privatem Weg.
Und sie bereut es nicht. Die der Selbsterforschung dienenden „Basismodule“ habe sie als „Geschenk“ wahrgenommen, wie sie sagt: „Ich bin mir da nochmal ganz anders begegnet.“ Das Salutogenese-Modell habe sie fasziniert, „weil ich mich dabei nicht über Krankheit sondern Gesundheit definieren durfte“. Krisensicher sei sie, meint sie: Einer außerordentlichen Belastungserprobung durch Probleme im Verein habe sie gut standgehalten. Jetzt plant sie die Rückkehr auf den ersten Arbeitsmarkt. Einen Wunsch-Arbeitsplatz hat sie schon im Kopf. Sie würde gern dorthin zurückkehren, wo sie ihr Praktikum absolviert hat und aktuell ehrenamtlich weiter aktiv ist: in der akuten Krisenintervention der Brücke Lübeck. Dort sei sie voll eingebunden worden und habe viele positive Rückmeldungen erhalten.
Das AMEOS Klinikum Lübeck hat bereits für zwei ehemalige Praktikanten 450 Euro-Stellen geschaffen, und Dr. Arnold könnte sich insgesamt gut fünf bis sechs Genesungsbegleiter im Lübecker Klinikum vorstellen, die er „als Teil des Teams integriert wissen will“ und in Supervision einbinden möchte. Auch jetzt schon würde er EX-IN-Absolventen gerne nehmen, ermuntert er zu Bewerbungen.
Was gilt es in der Praxis zu beachten? Man müsse eine Balance finden, gibt Stephan Klüver zu bedenken. Wichtig sei, dass die Genesungsbegleiter nicht ihre Sonderrolle verlören. Wichtiger Aspekt sei die andere Sprache: Man sollte die Übernahme von „Pflege- oder Profisprech“ durch die Experten aus Erfahrung vermeiden.
„Auch Profis werden krank”
„Befürchtungen offen aussprechen, sonst verfestigen sie sich“, meint Bianca Rudloff. Es gebe Ängste bei Profis um ihre eigene Profession. Auch Klüver ist für einen offensiven Umgang mit Bedenken und mit den Vorteilen der neuen Profession. „Eine vorsichtige Haltung würde sich übertragen.“ Dr. Rüdiger Arnold ergänzt mit Blick auf Zweifel an der Belastungsfähigkeit von Experten aus Erfahrung: „Jeder kann an eine Belastungsgrenze kommen. Auch Profis werden krank.“
Bleibt die Sorge um die Finanzierung. Viele wüssten das Ganze nicht zuzuordnen, da die Stundenzahl der EX-IN-Ausbildung nicht für eine offizielle Ausbildung ausreiche, heißt es. Weiteres Problem sei, dass ein großer Teil die Ausbildung für sich nutze, aber anschließend nicht damit ins Berufsleben einsteige, macht Dr. Kirsten Hartung, Leiterin von KISS Lübeck, deutlich. „Vielleicht muss es nochmal Klagen geben“, sagt sie. Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung EPPENDORFER 4/20)
Weitere Informationen unter: www.dgsp-sh.de bzw. bei Christel Achberger, Tel.: 01724062071, mail: chrisachberger@ magdahaus.de
*EX-IN steht für Experienced Involvement – zu dt.: Einbeziehung Erfahrener